Der Richter als Automat?
Künstliche Intelligenz in der Rechtsprechung
Die Digitalisierung des Rechts schreitet rasant voran. Dabei geht es um juristische Datenbanksysteme, die Automatisierung von Arbeitsprozessen und nicht zuletzt um den Einsatz Künstlicher Intelligenz. Vom maschinenlesbaren Gesetz bis zum Legal Chat Bot werden selbst juristische Kernbereiche wie die Rechtsfindung und Rechtsprechung herausgefordert. Sind Computer vielleicht die besseren Juristen? Kommt das Recht bald aus dem Automaten? Geforscht wird dazu auch an der Uni Ulm.
Menschen müssten in den Entscheidungsvorgang einbezogen werden, um zu gewährleisten, dass nur Menschen über Menschen richten
Der vielzitierte Jurist, Soziologe und Nationalökonom Max Weber (1864 bis 1920) beschrieb den Beruf des Richters im bürokratischen Staat mit dem Bild eines „Paragraphen-Automaten“, in den man oben Akten und Gebühren hineinwerfe, und der unten „das Urteil nebst den mehr oder minder stichhaltigen Gründen ausspeihe“. Die Vorstellung eines Richterautomaten mag zunächst kurios anmuten und technisch kaum zu realisieren sein. Eine vollständige Automatisierung der Rechtsfindung wäre auch mit rechtsstaatlichen Prinzipien, zu der die Unabhängigkeit des Richters gehört, nicht zu vereinbaren. „Doch gibt es in der deutschen Rechtswissenschaft in der Tat eine lange Tradition, die Möglichkeiten und Grenzen einer Algorithmisierung der Rechtsfindung und damit eines Recht ex machina zu ergründen“, erklärt Professor Heribert Anzinger. Der Steuerrechtsexperte forscht am Institut für Rechnungswesen und Wirtschaftsprüfung auch über Fragen des digitalen Rechts.
Systematik und Logik spielen in unserem deutschen Rechtsverständnis eine große Rolle. Frühe Ansätze zur Automatisierung des Rechts zielten darauf ab, diese Logik in regelorientierten Expertensystemen abzubilden. Im angelsächsischen Recht, das eher empirisch und fallorientiert ist, liegt die Anwendung statistischer Methoden näher. Die jüngere Forschung in diesen Staaten konzentriert sich daher auf die Anwendung moderner Verfahren des Machine Learning zur Vorhersage juristischer Entscheidungen. „Data Science hält damit auch in der Rechtswissenschaft Einzug“, so Anzinger. Entscheidungen, die sich auf statistische Verfahren gründen, stoßen allerdings nur auf Akzeptanz, wenn sie erklärt werden können; was voraussetzt, dass deren Zustandekommen verstanden wird. Der Einsatz neuer Technologien zur Rechtsautomatisierung wirft viele Fragen auf. Welche Rolle spielt der Mensch? Welchen Stellenwert im Rechtssystem haben Werturteile? „Menschen müssten schon in den Entscheidungsvorgang selbst einbezogen werden, um zu gewährleisten, dass nur Menschen über Menschen richten. Nur so ist es möglich, dem ,Menschenvorbehalt‘ Rechnung zu tragen“, so der Wissenschaftler. In Anlehnung an den Werturteilsstreit in der Wissenschaftstheorie hat sich zudem unter deutschen Juristen die Ansicht durchgesetzt, dass subjektive Faktoren wie Werturteile durchaus legitime Bestandteile deutschen Rechts sind.
Algorithmen kommen schon heute in der Rechtsfindung und Rechtsprechung zum Einsatz. So gibt es Expertensysteme und regelorientierte Entscheidungsunterstützungsverfahren, die beispielsweise im Familien- und im Steuerrecht helfen, Sachverhalte festzustellen und Recht anzuwenden. Im Steuerrecht werden bereits maschinenlesbare Gesetze getestet, die nach dem Vorbild von Programmablaufplänen gemacht werden. Geforscht wird auch an Annotationsstandards, die es Maschinen möglich machen, von Menschen gemachte Gesetze zu „verstehen“. Denn das natürliche Sprachverstehen von Computern gilt noch immer als sehr begrenzt. In besonderen Bereichen wie dem Vertragsrecht finden sogenannte Smart Contracts mehr und mehr an Verbreitung.
Wenn vom Einsatz künstlicher Intelligenz die Rede ist, geht es meist um selbstlernende Systeme wie den sogenannten Legal Chat Bots. Diese werden mit großen Datenmengen trainiert; sie können Muster erkennen und auf dieser Grundlage Entscheidungen treffen. „Gefüttert“ werden diese maschinellen „Rechtsprecher“ mit einer Unmenge an richterlichen Entscheidungen. „Die Technik funktioniert schon vielversprechend. Doch sollte der Mensch immer wissen, wie der Algorithmus arbeitet, weil er letztendlich die Verantwortung trägt“, meint der Professor für Wirtschafts- und Steuerrecht Heribert Anzinger. Dafür brauchen Juristen Kenntnisse in der Statistik und Informatik. In die Forschung zu computergestützten Methoden der Rechtsfindung fließen Methoden der Mathematik, der Wirtschaftswissenschaften, der Informatik und der Psychologie ein.
Data Science, Künstliche Neuronale Netze, Maschinelles Lernen oder neue Blockchain- Technologien zur kryptografischen Verkettung von Datensätzen eröffnen völlig neue Perspektiven für die Entwicklung und den Einsatz von Legal Tech. „Wie die Forschung, stehen auch Rechtssysteme im Wettbewerb, und der deutsche Rechtsmarkt gilt für die Entwickler automatisierter Verfahren als attraktiv. In Großbritannien helfen solche Verfahren schon heute, das Rechtssystem zu entlasten und den Zugang zur Justiz zu erleichtern“, bekräftigt der Wirtschaftsjurist. Die „Industrialisierung“ juristischer Dienstleistungen wird voranschreiten. Gut, wenn die Gesellschaften und ihre Rechtssysteme mit Hilfe der Wissenschaft darauf vorbereitet sind und diesen Prozess aktiv mitgestalten.
Um Fächergrenzen zu überwinden und nicht nur den juristischen Nachwuchs fit für die digitalen Herausforderungen der Zukunft zu machen, haben die Universitäten Heidelberg und Ulm – auf Mitinitiative vor Professor Heribert Anzinger – ein gemeinsames Promotionskolleg über Digitales Recht geschaffen. Das Ziel: Absolventinnen und Absolventen verschiedener Fachbereiche für Forschungsprojekte auf diesem hochinnovativen Gebiet zu gewinnen.
Was bedeutet der Einsatz von Künstlicher Intelligenz und Robotern für Mensch und Gesellschaft? Um Fragen wie diese ging es bei der Podiumsdiskussion „KI im Einsatz – Neue Humanität durch Maschinen?“, die Ende Januar im Haus der Begegnung stattfand. Im Mittelpunkt der sehr gut besuchten Veranstaltung, die von der Ökumenischen Hochschulgemeinde Ulm organisiert wurde, stand der Einsatz „intelligenter“ Waffensysteme. Zu den drei Podiumsgästen gehörte Professor Daniel Alexander Braun. Der Leiter des Instituts für Neuroinformatik an der Universität Ulm gab Einblicke in den aktuellen Stand der Technik. Was können Künstliche Intelligenz und Robotik schon heute? Was wird in naher Zukunft möglich sein und was nicht? Wie diese technologischen Perspektiven ethisch zu bewerten sind und welche Folgen der zunehmende Einsatz von KI für das Wertefundament einer Gesellschaft hat, darüber sprach Professor Christian Lenk, Geschäftsführer der Ethikkommission der Universität Ulm. Der studierte Philosoph und Politologe wies darauf hin, dass hier viele ethische und juristische Fragen noch ungeklärt seien.
Professor Wolfgang Koch, Abteilungsleiter Sensordaten und Informationsfusion am Fraunhofer-Institut der Universität Bonn informierte über Möglichkeiten beim Einsatz, hochautomatisierter Waffensysteme. Killer-Drohnen und Kampfroboter fänden sich nicht nur auf den Wunschzetteln von Schurkenstaaten, KI-gestützte Waffen seien auch Bestandteil zukünftiger Verteidigungskonzepte des Westens. „Vollautomatisierte Waffensystemen werden in Zukunft zum Einsatz kommen, und es wird uns gar nichts anderes übrigbleiben, als dafür gerüstet zu sein“, so der Wehrtechnikexperte. „Unsere Akteure auf diesem Gebiet suchen nach einem verantwortungsvollen Umgang, doch was fehlt ist eine breite gesellschaftliche Debatte“, sagte Koch. Besonders brisant: die Festlegung von Verantwortlichkeiten. „In den Zeitungen wird schon heute ausführlich über Waffensysteme der Zukunft berichtet, doch die wenigsten nehmen dies leider zur Kenntnis“, bedauert der Bonner Wissenschaftler und warnt: „Nichts ist gefährlicher als eine Mischung aus Künstlicher Intelligenz und menschlicher Dummheit!“
Text: Andrea Weber-Tuckermann
Fotos: Elvira Eberhardt
Illustration: ©123RF/ alexandersikov, pixabay/Gerd Altmann