Ulmer Kaulquappen reisen in den Orbit

Gravitationsbiologie in der Schwerelosigkeit

Menschliche Astronauten durchlaufen ein hartes Auswahlverfahren und eine lange Ausbildung, bevor sie erstmals ins Weltall fliegen. Für Kaulquappen des Südafrikanischen Krallenfrosches (Xenopus laevis) aus einem Uni-Labor galten seinerzeit deutlich weniger strenge Voraussetzungen: Ohne besondere Vorkenntnisse und direkt aus der Kinderstube lösten verschiedene Generationen ihr Ticket in den Orbit und trugen so zu einem besseren Verständnis des Schweresinns bei.

Prof. Eberhard Horn mit Mini-Aquarien
Prof. Eberhard Horn mit Mini-Aquarien

An Bord eines Space-Shuttles oder in einer Soyus-Kapsel sind mehrere Kaulquappen-Generationen von der Uni Ulm ins All entsandt worden. Die vier Weltraummissionen zwischen 1993 und 2008 hatten selbstverständlich einen wissenschaftlichen Hintergrund: Der Neurobiologe Professor Eberhard Horn erforschte damals das Leistungsvermögen des Schweresinns bei Tieren. Für das Sehen, Riechen und Hören war bereits bekannt, dass diese Sinnesleistungen durch Reizentzug beeinträchtigt werden. Eine hierfür besonders sensible Entwicklungsphase wird als »kritische Periode« bezeichnet. Aber lassen sich diese Erkenntnisse auf den Schweresinn übertragen, der den Körper in Lage und Raum stabilisiert? Diese Frage konnte ausschließlich in der Schwerelosigkeit beantwortet werden. Also wurde Eberhard Horn zum Pionier der Gravitationsbiologie im All und schickte Kaulquappen verschiedener Entwicklungsstadien in den Orbit.

Bei ihren Missionen reisten die Kaulquappen-Crews stets komfortabel in raumfahrttauglichen Mini-Aquarien. Diese von Horn mitentwickelten Behausungen garantierten eine ausgezeichnete Wasserqualität und die automatische Fütterung ihrer Bewohner. Live-Übertragungen aus der Schwerelosigkeit verschafften den Ulmer Forschenden erste Einblicke in das Schwimmverhalten der kleinen Passagiere. Nach Rückkehr der Kaulquappen auf die Erde wurde insbesondere ein Augenreflex untersucht, der bei allen Wirbeltieren durch »Seitwärtsrollung« ausgelöst wird (vestibulookularer Reflex). Die wichtigste Erkenntnis aus dem All: In bestimmten Entwicklungsphasen reagieren die Krallenfrosch-Kaulquappen hochempfindlich auf den Entzug des Schwerereizes. Für den vestibulookularer Reflex fällt diese »kritische Periode« mit der Funktionsaufnahme des beteiligten neuronalen Netzwerks zusammen. Da sich das Gleichgewichtsorgan von Krallenfrosch und Mensch stark ähnelt, trägt die Kaulquappen-Forschung im All zu einem tieferen Verständnis des menschlichen Schweresinns bei.

Bei ihren Ausflügen ins All, die an den Weltraumbahnhöfen Cape Canaveral oder Baikonur starteten, schrieben die Ulmer Kaulquappen sogar Geschichte: 2001 besuchten sie als erste Tiere die internationale Raumstation ISS. Rund sieben Jahre später endeten die tierischen Weltraummissionen der Uni Ulm – obwohl Professor Horn auch noch im Ruhestand zu gravitationsbiologischen Fragestellungen forschte; 2016 verstarb der Wissenschaftler. Und was wurde aus der letzten Kaulquappen-Crew? Die Raumfahrer wuchsen zu Krallenfröschen heran und einige siedelten in den Ulmer Tiergarten über.

Raketenstart

Text: Annika Bingmann/Dr. Ingrid Horn

Fotos: Horn, Pixabay/Wikilmages