Wenn »Corona« einfach nicht enden will

Post-COVID-Syndrom: Von der Sporthalle ins Krankenhaus

Seit Anfang 2020 hält das neue Coronavirus, SARS-CoV-2, die Medizin in Atem. Im Rekordtempo wurden damals Intensivbetten aufgestockt und klinische Studien begonnen. Doch abseits der Akutversorgung litt bald eine weitere Patientengruppe: Ehemals Corona-Infizierte, die einfach nicht mehr gesund wurden. Darunter waren selbst junge, topfitte Leistungssportlerinnen und -sportler. Am Universitätsklinikum Ulm konnte vielen Betroffenen geholfen werden – auch aufgrund der Erfahrung mit anderen Müdigkeitssyndromen.

Lena Mikulic ist eine erfolgreiche junge Frau: Im Karatesport war sie bereits deutsche Vizemeisterin und für die Europameisterschaft nominiert. Neben dem anspruchsvollen Training absolvierte die Ravensburgerin ein duales Studium – bis ein bis dato unbekanntes Syndrom ihr Leben auf den Kopf stellte. Im Herbst 2020 steckte sich Lena Mikulic mit dem Coronavirus an. Die damals 19-Jährige bekam leichtes Fieber, Husten und Gliederschmerzen, erholte sich aber schnell von dem Infekt. Vier Wochen später wollte sie wieder ins Training einsteigen, fand sich aber bald im Krankenhaus wieder. »Auf einmal konnte ich meine linke Gesichtshälfte nicht mehr bewegen. Der Verdacht auf einen Schlaganfall erhärtete sich in der Klinik glücklicherweise nicht, und die Lähmung ging nach etwa zwei Wochen zurück. Trotzdem bin ich einfach nicht mehr auf die Beine gekommen«, erinnert sich die Studentin. Schlafstörungen, Muskelschwäche und Gedächtnisprobleme: Lena Mikulic schaffte es bald kaum mehr, ihren Alltag zu bewältigen. Ein einfacher Spaziergang strengte die einstige Spitzensportlerin dermaßen an, dass sie Fieber bekam; beim Karatetraining vergaß sie Routine-Abläufe. Einen Zusammenhang zwischen den Beschwerden vermutete zunächst niemand; damals waren »Long-COVID« beziehungsweise das »Post-COVID-Syndrom« noch nicht in den Schlagzeilen.

Frau und Arzt am Schreibtisch im Gespräch
Patientin Lena Mikulic im Gespräch mit Prof. Jürgen Steinacker
» ...endlich gab es wenigstens für einen Teil meiner Symptome eine Erklärung«

Dem Ulmer Sportmediziner Professor Jürgen Steinacker wären die Beschwerden der jungen Frau sofort bekannt vorgekommen. Der Facharzt für Kardiologie beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Müdigkeits- und Überlastungssyndromen bei Athleten. »Wir haben lange gedacht, dass hartes Training und Stress das Chronic Fatigue Syndrome und ähnliche Krankheitsbilder auslösen. Seit etwa zehn Jahren ist jedoch klar, dass Erreger wie das Epstein-Barr-Virus eine große Rolle spielen«, erklärt Steinacker. Über viele Jahre hat der Mediziner ein bis zwei junge Menschen mit starken Müdigkeitserscheinungen pro Woche behandelt. Doch Anfang 2021 kamen gleich 40 Patientinnen und Patienten in die Sprechstunde, die alle eine Corona-Infektion durchgemacht hatten. Das Post-COVID-Syndrom, auch bekannt als »Long-COVID«, war am Universitätsklinikum Ulm angekommen. Betroffen waren eben nicht nur ältere, übergewichtige oder vorerkrankte Menschen, sondern auch viele Leistungssportlerinnen und -sportler. Junge Menschen wie Lena Mikulic.

Professor Steinacker kannte die ehrgeizige Studentin von früheren sportmedizinischen Untersuchungen. Im März 2021 musste er dieselbe Kampfsportlerin mit Herzmuskelentzündung und Perikarderguss krankschreiben. »Jeder dieser Befunde ist für Leistungssportler schlimm, doch endlich gab es wenigstens für einen Teil meiner Symptome eine Erklärung«, erinnert sich Lena Mikulic.

Enge Verzahnung von Patientenversorgung und Forschung

Frau wird am Kopf untersucht

Am Universitätsklinikum Ulm wurden Diagnostik und Therapie des Post-COVID-Syndroms von Anfang an wissenschaftlich begleitet – auch Lena Mikulic machte bei der Studie »CoSmo-S: COVID-19 im Spitzensport« mit. Teilnehmende ließen zahlreiche Untersuchungen wie Lungenfunktionstests, HerzUltraschall, EKG und Blutuntersuchungen über sich ergehen. Außerdem setzte die Sektion Sport- und Rehabilitationsmedizin einen umfangreichen Fragebogen aus der Fatigue-Forschung ein. Die Probandinnen und Probanden einte die Hoffnung auf eine individuell zugeschnittene Therapie mit unter anderem entzündungshemmenden und antiviralen Medikamenten sowie Nahrungsergänzungsmitteln. Gegen die damals noch wenig erforschten neurologischen Störungen sollten Infusionen, Stresstraining und Psychotherapie helfen – mit sehr unterschiedlichem Behandlungserfolg. Bei Lena Mikulic ließen Effekte leider lange auf sich warten. »In der Sportmedizin haben wir uns natürlich gefragt, warum gerade unsere Klientel, fitte junge Menschen, so stark vom Post-COVID-Syndrom betroffen ist. Inzwischen suchen wir unter anderem nach Risikogenen, die sowohl die Leistungsfähigkeit als auch Entzündungsreaktionen begünstigen«, erklärt Steinacker.

Neben der Sportmedizin war die Post-COVID-Spezialambulanz, geleitet von Professor Dominik Buckert, Hauptanlaufstelle für Personen, die nach einer Corona-Infektion einfach nicht auf die Beine kamen. Im Jahr 2021 haben sich rund 650 Patientinnen und Patienten in dieser Ambulanz der Universitätsklinik vorgestellt. Sie waren gleichzeitig Teil eines von Bund und Land finanzierten Forschungsprojekts. Als Kardiologe legte Buckert den Fokus zunächst auf Herz-Lungenerkrankungen, er sah aber auch völlig andere Krankheitsbilder. Vergleichsweise einfach zu helfen war Personen mit klar diagnostizierbaren körperlichen Ursachen wie einer Herzmuskelentzündung oder Lungenarterienembolie: »Das sind klassische internistische Erkrankungen. Bei der Behandlung macht es keinen Unterschied, ob vorher eine Corona-Infektion vorlag oder nicht«, so Buckert. Viel herausfordernder seien Patienten, die über funktionelle Einschränkungen wie Luftnot klagen, bei denen sich aber keine körperliche Ursache finden lässt. Eine dritte große Gruppe, die ebenfalls unter Post-COVID läuft, kämpft mit neuropsychiatrischen Problemen wie Wortfindungsstörungen oder Fatigue. »Aufgrund dieser komplett unterschiedlichen Krankheitsbilder haben wir die Spezialambulanz 2022 aufgelöst. Patientinnen und Patienten werden nun ihren Beschwerden entsprechend, mit der neu gewonnenen Expertise in den Fachkliniken betreut«, erläutert Buckert.

Den typischen Post-COVID-Fall vermag er auch nach hunderten wissenschaftlich begleiteten Patientenkontakten nicht zu beschreiben: Betroffen sind alle Altersgruppen, ehemals leicht und schwer Erkrankte, Geimpfte wie Ungeimpfte und vielleicht etwas mehr Frauen. Erklärungsansätze für ihren Gesundheitszustand reichen von einer überschießenden Immunreaktion bis zu Überbleibseln des Coronavirus in Organen. 

Portrait von Mann
Prof. Dominik Buckert

Die aktuelle EPILOC-Studie bestätigt viele von Professor Buckerts Erkenntnissen. In Zusammenarbeit mit den lokalen Gesundheitsämtern haben die Unikliniken Freiburg, Heidelberg, Tübingen und Ulm 12 000 ehemals Corona-Infizierte im Alter von 18 bis 65 Jahren befragt und untersucht. Ein zentrales Ergebnis: Etwa 25 Prozent der Teilnehmenden leiden sechs bis zwölf Monate nach einer Corona-Infektion unter erheblichen Symptomen. Vor allem neurokognitive Beschwerden sowie Müdigkeit mindern Gesundheit und Arbeitsfähigkeit. Jetzt stehen Nachuntersuchungen der Kohorte an.
Insbesondere für Betroffene mit klar diagnostizierbaren körperlichen Ursachen hat der Kardiologe Buckert eine gute Nachricht: »Der weitaus größte Teil dieser Post-COVID-Betroffenen erholt sich vollständig und steht nach einem Jahr wieder voll im Leben.«

Auch Leistungssportlerin Lena Mikulic ist auf dem Weg der Besserung. Im Herbst 2021 hat sie ein neues Studium in München aufgenommen; in ihrer Freizeit ist sogar wieder ein leichtes Fitness- und Intervalltraining möglich. Sie selbst gibt ihre Leistungsfähigkeit mit etwa 65 Prozent an und kommt ihrem Traum, wieder an Karate-Wettkämpfen teilzunehmen, immer näher. Sportmediziner Steinacker schätzt ihre Chancen ebenfalls gut ein. Er betont: »In beinahe drei Jahren haben wir viel über Post-COVID und andere Post-Infektionssyndrome gelernt. Mit unserem interdisziplinären Expertenteam können wir Betroffenen wie Lena Mikulic in Zukunft eine ganzheitliche Therapie anbieten und ihnen Stück für Stück zurück ins Leben helfen.«

 

Publikationsnachweis EPILOC-Studie:
Raphael S. Peter, Alexandra Nieters, Hans-Georg Kräusslich, Stefan O. Brockmann, Siri Göpel, Gerhard Kindle, Uta Merle, Jürgen M. Steinacker, Dietrich Rothenbacher, Winfried V. Kern for the EPILOC Phase 1 Study Group. Post-acute sequelae of COVID-19 six to 12 months after infection: a population-based study. Britisch Medical Journal. DOI: 10.1136/bmj 2022 071050

Text: Annika Bingmann

Fotos: Kite_rin/Adobe Stock, privat, Elvira Eberhardt, M. Wolfson/Uniklinik Ulm