Von einem Glücks­verspre­chen und seinen Grenzen

Coronavirus überschattet 13. Ulmer Denkanstöße zur „Intensität“

Wie dünn die Grenze zwischen Glücksversprechen, Krankheit und Kollaps ist, zeigte sich bei den 13. Ulmer Denkanstößen coronabedingt in mehrfachem Sinne. Haarscharf schrammte die mehrtägige Kultur- und Diskussionsveranstaltung, die seit mehr als zehn Jahren das öffentliche Leben der Stadt so sehr bereichert, am Totalausfall vorbei. Auftaktveranstaltung und Freitagsprogramm gingen mit Sicherheitsauflagen und Zuschauerbeschränkungen noch vor Publikum über die Bühne. Am Samstag, dem letzten Tag der Veranstaltung, mussten Vorträge und Diskussionen bereits ausfallen oder sie fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt und wurden aufgezeichnet.

Nur 150 Zuschauer waren zugelassen für den Auftaktvortrag im großen Saal des Stadthauses und wenige Tage vor der Veranstaltung erreichte die Organisatoren dann noch eine richtig schlechte Nachricht: der „Top Act“ des Abends hatte kurzfristig abgesagt. Für den im Programm angekündigten Wolfram Eilenberger würde kurzerhand der Sprachwissenschaftler und Philosoph Manfred Geier einspringen, eine glückliche Fügung also. Sprichwörtlich war es wohl ein Wechselbad der Gefühle, dem sich die Veranstalter der Ulmer Denkanstöße in diesem Jahr ausgeliefert sahen. In Anbetracht der besonderen Umstände überwog beim Humboldt-Studienzentrum der Universität Ulm (HSZ), der Kulturabteilung der Stadt Ulm und der Stiftung Bildung und Soziales der Sparda-Bank Baden-Württemberg jedoch die Erleichterung. Denn die große Eröffnung konnte immerhin stattfinden. Das übergeordnete Motto „Intensität – Von einem Glücksversprechen und seinen Grenzen“ passte nicht schlecht zu diesem Auf und Ab. „Der moderne Mensch hat ein unstillbares Verlangen nach intensiven Erlebnissen, nach Tiefe und Verdichtung. Der eine will seine emotionalen Erfahrungen fortwährend steigern, der andere sucht nach Wegen, um immer perfekter, optimaler und effektiver zu werden“, erklärt HSZ-Geschäftsführerin und Philosophie-Professorin Renate Breuninger bei der Einführung. Doch während auf der einen Seite der Rausch der Empfindungen warte, die Steigerung der sinnlichen Lust und das Leben pur, zeigten sich andererseits Maßlosigkeit, Grenzüberschreitung und Rausch. Zu diesen Schattenseiten gehörten Erschöpfung, Krankheit und Kollaps genauso wie Umweltzerstörung und Ausbeutung.

Was philosophisches Denken mit Intensität zu tun hat, beleuchtete der Eröffnungsvortrag mit Manfred Geier. Renate Breuninger hatte den erfolgreichen freien Publizisten vorgestellt als „philosophisches Unikat“, als jemanden, der Geschichten zu erzählen vermag und den Menschen etwas zu sagen hat. Dafür habe der promovierte und habilitierte Linguist Manfred Geier, der über die Sprachwissenschaften zur Philosophie kam, seine wissenschaftliche Laufbahn an den Nagel gehängt. Seinen Vortrag über „Die Intensität des Philosophierens – Zwischen Glücksgefühl und Niederlage“ widmete er vier großen Denkern aus sehr unterschiedlichen Epochen: Sokrates, Rousseau, Nietzsche und Popper. „Philosophie wird immer vom Menschen gemacht, und es stellt sich dann natürlich die Frage, was sind das für Menschen, die dieses Risiko eingehen“, so Geier. Philosophische Arbeit brauche die Intensität des Denkens und sei gleichermaßen verbunden mit übermenschlichem Glücksgefühl wie mit tiefster Verzweiflung.

Philosophische Arbeit braucht die Intensität des Denkens

Eindringlich macht Geier anschaulich, wie Sokrates (469 – 399 v.Chr.), der „Meister aller Meister“, für sein erotisches Verhältnis zur Philosophie, für sein unbedingtes Streben nach Erkenntnis und sein unstillbares Begehren nach Wissen mit dem Tod bezahlen muss. Seine Kritiker erkennen nicht, dass die Liebe des Lehrers Sokrates zu seinen Schülern „platonisch“ ist und er den Austausch der Gedanken sucht. Angeklagt wegen Gotteslästerung und des verderblichen Einflusses auf die Jugend geht er schließlich mit einem Schierlingsbecher in den Tod.

Am Beispiel des Aufklärungsphilosophen Jean- Jacques Rousseau (1712 – 1778) schildert Geier, wie dieser als junger Mann von einer plötzlichen Eingebung befallen wird; Rousseau ist unterwegs auf einem langen mühevollen Fußmarsch zu seinem inhaftierten Freund Diderot. „Es überkommt ihn ein Schwindel, er gerät in einen Rausch und muss sich hinsetzen, so erschüttert ist er von seinen Gedanken“, sagt der Vortragende. Dieser Gedanke wird später zum Kern der Rousseau'schen Naturphilosophie und Institutionenkritik, nach der der Mensch im Naturzustand unabhängig und frei sei, ihn die Konventionen der Gesellschaft aber zum „gefesselten Sklaven“ machten.

Später erzählt Manfred Geier von Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), dem geistigen Vater des Nihilismus, der berühmt wurde für seinen Ausruf „Gott ist tot“. Bereits mit 40 fühlte sich der klassische Philologe Nietzsche alt, krank und unglücklich. In der Stadt sieht er sich einer „elektrischen Intensität“ ausgesetzt und glaubt, er sei ein Empfänger für atmosphärische Spannungen. Erholung sucht Nietzsche in den Bergen der Schweiz und findet sie an einem stillen See im Ober-Engadin, in Sils Maria. Dort trifft ihn ein Erkenntnisblitz, der sein Leben von Grund auf ändern wird: die „ewige Wiederkunft des Gleichen“. Die Idee eines zyklischen Zeitverständnisses hat für den deutschen Philosophen aber nichts Fatalistisches, sondern wird zur Grundlage höchster Lebensbejahung.

Der studierte Politikwissenschaftler, Germanist und Philosoph Manfred Geier beendete seinen Vortrag mit einem Blick auf Karl Raimund Popper (1902 – 1994). Der Philosoph, der zu den wichtigsten Vertretern des kritischen Rationalismus gehört, war selbst Zeuge einer mörderischen Zeit. Als Kind erlebte er in Wien den 1. Weltkrieg, dann kam der Aufstieg des Faschismus, die Judenverfolgung, der 2. Weltkrieg. Popper flieht mit seiner Frau nach Neuseeland, ein Großteil seiner Familie stirbt im Holocaust. Nach dem Krieg kehrt er nach Europa zurück, forscht und lehrt in London. Der politische Denker und Verfasser der weltberühmten liberalen Streitschrift „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ hat zeitlebens viel und intensiv gearbeitet. Und für ihn lag genau darin die Quelle seines großen Glücks. Überliefert ist der selbstironische Satz: „Ich bin der glücklichste Philosoph, der mir je begegnet ist!“ In der offenen Gesellschaft bestehe das größte Glück nicht im Erreichen eines schwer definierbaren höchsten Glücks, sondern ganz pragmatisch in der Beseitigung von sozialen Übeln und der Korrektur von politischen Fehlern.

Nur 150 Zuschauer wurden am Donnerstag zur Auftaktveranstaltung im großen Saal des Stadthauses zugelassen; und bereits zwei Tage später waren auch dort keine öffentlichen Veranstaltungen mehr möglich. Das Bild (v.l.) zeigt Moderator Florian Buchmaier bei der Begrüßungsrunde mit OB Gunter Czisch, Uni-Präsident Prof. Michael Weber und Sparda-Bank BW Vorstand Martin Hettich

Wir sind "verdammt" zum Glück

Von hier aus ließ sich nun ein perfekter Bogen spannen zum letzten, online übertragenen Vortrag der Denkanstöße von Professor Niko Paech, bei dem es um kulturelle Korrekturen und ökonomische Fehlentwicklungen ging. Paech gilt als Verfechter des Nullwachstums und wurde einer breiteren Öffentlichkeit bekannt mit der Forderung nach einer Befreiung vom Überfluss. Der Ökonom erklärte in seinem Plädoyer für Suffizienz, dass die Sättigungsgrenze in der modernen Wohlstandsgesellschaft längst erreicht beziehungsweise weit überschritten sei. „Ab diesem Punkt entkoppelt sich der Zusammenhang zwischen subjektivem Wohlbefinden und der Ausstattung mit materialistischen Gütern“, sagte der Wirtschaftswissenschaftler. Die moderne Gesellschaft halte immer mehr neue Freiheitserfolge bereit, die der Mensch in diesem Umfang gar nicht nutzen könne. Denn nicht nur seine Zeit ist knapp bemessen, sondern auch seine Aufnahmefähigkeit habe physische und psychische Grenzen. So sei es kein Wunder, dass der Umsatz an Antidepressiva in den Industrieländern massiv gestiegen sei, genauso wie der Missbrauch an Drogen und Alkohol. „Wir sind gewissermaßen verdammt zum Glück und kennen keine Ruhe und Zufriedenheit mehr“, so der Postwachstumsökonom. Eine Abkehr von der Überfluss-Gesellschaft sei nicht nur ökologisch nachhaltiger, sondern auch ökonomisch sinnvoll und werde dem Menschen und seinen biologischen Voraussetzungen viel besser gerecht als die aktuelle Überforderungsgesellschaft.

Die Vorträge und Diskussionsrunden am Samstag, 14. März, mussten vor Publikum komplett entfallen. Die Beiträge der bereits angereisten Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen und des Wirtschafts-Professors Niko Paech sind jedoch live online übertragen worden. Alle Videos der 13. Ulmer Denkanstöße können kostenfrei auf der Videoplattform YouTube (Kanal „UlmerDenkanstoesse“) abgerufen werden.

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So ist es wohl auch kein Zufall, dass viele Menschen den wochenlangen Lockdown, der nur wenige Tage nach dem Ende der Veranstaltung über das Land gekommen ist, um die Ausbreitung des neuen Coronavirus (SARS-CoV-2) zu stoppen, als willkommene Entschleunigung erleben. Und wer noch immer das Gefühl hat, plötzlich so viel mehr Zeit zu haben, kann sich auf YouTube viele Beiträge der 13. Ulmer Denkanstöße nun daheim in Ruhe ansehen – beispielsweise das Video mit der renommierten Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen. Die langjährige Prozessbeobachterin fragt in dem 20-minütigen Vortrag, was der Begriff „Intensität“ mit dem Recht zu tun hat. Sie spürt dabei dem Begriff des Intensivtäters hinterher und zeigt anhand ungewöhnlicher Kriminalfälle auf, wie fließend die Grenze zwischen „mad“ und „bad“ ist.

Trotz aller durch Corona ausgelösten Turbulenzen gab es am Ende der Denkanstöße doch noch eine gute Nachricht: 3 000 Euro an Spenden konnten der Suchtberatung der Caritas Ulm-Alb-Donau übergeben werden. Dafür hatte die Sparda-Bank Baden-Württemberg die Saalspenden mehr als verdoppelt.

Leben und Sterben auf dem Bauernhof

Mit dem Solo-Stück „Emmas Glück“ endeten Die Präsenzveranstaltungen der Ulmer Denkanstöße am Freitag im Stadthaus vorzeitig. Vor rund dreißig Zuschauern spielte Britta Scheerer von der Theaterei Herrlingen intensiv und mitreißend die einsame Bäuerin Emma. Diese lebt allein auf ihrem verschuldeten Hof und muss dort „ihren Mann stehen“. Zärtlich und sanft ist Emma nur, wenn sie unterm Kastanienbaum ihre Schweine schlachtet und ihnen streichelnd mit einem schnellen Messerschnitt die Kehle durchtrennt. Die eintönige Routine durchbricht der krebskranke Max, den Emma nach einem Autounfall auf der nahen Bundesstraße in ihrem Haus gesundpflegt. Als die beiden sich verlieben und schließlich heiraten, erlebt Emma ihr Glück. Doch kurz nach der Hochzeit liegt auch der todkranke, leidende Max in Emmas Schoß unterm Gartenbaum und Emma leistet ihrem Liebsten schließlich Sterbehilfe.

Das Theaterstück "Emmas Glück" basiert auf dem gleichnamigen Roman von Claudia Schreiber. Im Solo-Stück verkörpert Schauspielerin Britta Scheerer die Titelheldin

Schauspielerin Britta Scheerer verkörpert die burschikose Bäuerin Emma selbstbewusst und lebenshungrig. Ganz allein trägt sie das Stück und lässt mit verstellter Stimme und veränderter Körpersprache auch andere Figuren zu Wort kommen. Ebenso überzeugte bei den Ulmer Denkanstößen auch das minimalistische Bühnenbild. Es war genauso klein und reduziert wie Emmas Welt — und doch brachte das auf der Bühne verstreute Fallobst einen duftenden Hauch von Land und Natur ins Stadthaus. Das Stück schwankte zwischen modernem Märchen, Krimi und Dorfgroteske. Dass es dabei die Balance hielt, ist auch das Verdienst von Regisseur Dieter Nelle.

Texte: Andrea Weber-Tuckermann, Daniela Stang

Fotos: Shutterstock/Anthony Moorey, Annika Bingmann, Ulrike Bausch, Daniela Stang