"Kin­der sind keine Viren­schleu­dern"

Ergebnisse der Corona-Kinderstudie mit politischen Folgen

Einen „Paukenschlag“ nannte die Bild-Zeitung die Ergebnisse der „Studie zur Rolle von Kindern bei der Verbreitung des Coronavirus“. Und auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) hebt in ihrem ausführlichen Bericht hervor, dass Kinder unter zehn Jahren – anders als bei Grippe – keine „Virenschleudern“ sind und bei der Verbreitung von SARS-CoV-2 keine große Rolle spielen. Für die Landesregierung in Baden-Württemberg waren diese Erkenntnisse entscheidend für die Wiedereröffnung von Kindertagesstätten, Kindergärten und Grundschulen.

„Kinder erkranken seltener als Erwachsene, möglicherweise sind sie deshalb auch weniger infektiös und verbreiten das Virus weniger“, brachte Professor Klaus-Michael Debatin, Leiter der Ulmer Uniklinik für Kinder- und Jugendmedizin, die zentrale Aussage der Kinder-Studie auf den Punkt. Bei einer Pressekonferenz der Landesregierung, die Mitte Juni in Stuttgart stattfand, stellte der Ulmer Mediziner erste Ergebnisse gemeinsam mit dem Heidelberger Infektiologen Professor Hans-Georg Kräusslich vor. Untersucht wurden für die Studie 2466 Eltern-Kind-Paare, also insgesamt 4932 Probanden. Ausgeschlossen von der Teilnahme waren Personen, die bereits labornachweislich an Covid-19 erkrankt waren. Durchgeführt wurde die Studie, die vom Land beauftragt und mit 1,2 Millionen Euro finanziert wurde, von den Universitätskliniken Ulm, Heidelberg, Freiburg und Tübingen.

Für die Untersuchung wurden Abstriche im Nasen- und Rachenraum gemacht sowie Blut abgenommen. Die Forschungsteams an den vier Standorten haben die Speichelproben daraufhin auf Viren-RNA getestet, die Aufschluss darüber gibt, ob eine akute Infektion vorliegt. Außerdem wurde im Blut mit Hilfe drei verschiedener Verfahren nach SARS-CoV-2-Antikörpern gesucht, die verraten, ob das Immunsystem auf diese viralen Krankheitserreger bereits reagiert hat. Denn so lassen sich auch zurückliegende symptomlose Verläufe nachvollziehen. Mit dem Einsatz der drei unterschiedlichen Testsysteme wird sichergestellt, dass die Untersuchungen so präzise wie heute möglich das durchgemachte Infektionsgeschehen abbilden. Das Ergebnis: ein Eltern-Kind-Paar war akut mit dem neuen Coronavirus infiziert. Bei 64 Personen, also 1,3 Prozent der Teilnehmenden, konnten Antikörper im Blut nachgewiesen werden, die auf eine zurückliegende Infektion mit SARS-CoV-2 schließen lassen. Das Erstaunliche: Während unter den Antikörper-Positiven 45 Erwachsene waren, zählten zu dieser Gruppe nur 19 Kinder. Das heißt: Weniger als die Hälfte der Kinder hat sich angesteckt, und das obwohl die Kinder und Elternteile zum Zeitpunkt der Untersuchung in einem Haushalt gewohnt haben; dies war Voraussetzung für die Studienteilnahme.

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben auch danach gefragt, ob das Infektionsrisiko in der Notbetreuung höher ist als bei Kindern, die zuhause betreut wurden. Die Antwort dazu lautet der statistischen Auswertung zufolge: Nein. „Kinder erkranken nicht nur seltener an Covid-19, sie sind auch weniger häufig mit SARS-CoV-2 infiziert“, so Debatin. Vermutet wird, dass Kinder das Coronavirus im Nasen- und Rachenraum – von wo aus sich das Virus ausbreitet – besser abwehren können. Auch komme es bei Erkrankten im Kindesalter weitaus seltener zu einer Überreaktion des Immunsystems, die häufig für die teils lebensbedrohliche Symptomatik von Covid-19 verantwortlich ist. Bekannt sei außerdem, dass Kinder weniger ACE2-Rezeptoren haben, die bei der Verbreitung des Virus eine Schlüsselrolle spielten. Diese Rezeptoren sitzen auf der Oberfläche vieler Körperzellen und bilden gewissermaßen die entscheidende Eintrittspforte für das Virus. Sie sind in der Schleimhaut der Nase, aber auch in der Lunge zu finden. Die Rezeptordichte ist maßgeblich für das Eindringen des Virus in die Zelle und hängt unter anderem vom Alter der Infizierten ab.

Kinder erkranken seltener als Erwachsende an Covid-19, möglicherweise sind sie deshalb auch weniger infektiös und verbreiten das Virus weniger.

Prof. Klaus-Michael Debatin
Prof. Klaus-Michael Debatin

„Nach dem gemeinsamen Aufruf der vier beteiligten Unikliniken, der im April über die Medien und Schulen verbreitet wurde, erreichte uns eine Flut an E-Mails von Eltern, die mit ihren Kindern an der Corona-Studie teilnehmen wollten. Allein aus Ulm und dem Alb-Donau-Kreis hatten sich mehr als 2000 Interessenten gemeldet“, erklärte Maria Zernickel. Die Medizinische Dokumentarin hat die Studie an der Ulmer Kinderklinik koordiniert. Die ursprünglich geplante Gesamtteilnehmerzahl durfte schließlich von 4000 auf 5000 erhöht werden. Allerdings konnten nur 720 Eltern-Kind-Paare in den Ulmer Teil der Untersuchung aufgenommen werden. „Wir haben uns sehr gefreut über die riesige Resonanz und hätten gerne auf alle Anfragen Rückmeldung gegeben. Doch leider war uns das aufgrund der knappen Zeit nicht möglich“, so Zernickel.

Ministerpräsident Winfried Kretschmann bedankte sich bei der Pressekonferenz bei den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der beteiligten vier Uni-Kliniken für diese besondere Kooperation. Diese außergewöhnliche Zusammenarbeit habe es möglich gemacht, eine solch umfangreiche und wichtige Untersuchung mit derart beeindruckender Geschwindigkeit auf die Beine zu stellen. Auch dank der Ergebnisse dieser Studie konnte die Landesregierung den Übergang in eine neue Phase vorbereiten. „Neuer Regelbetrieb unter Pandemiebedingungen“ heißt nichts anderes, als dass alle Kinder endlich wieder in den Kindergarten und die Grundschule durften.

Mutter hilft Kind beim Anziehen einer Alltagsmaske

Folgestudie untersucht unterschiedliche Immunreaktion von Erwachsenen und Kindern

Mitte Juli wurde bekannt, dass die Corona-Kinderstudie der vier Universitätskliniken Heidelberg, Freiburg, Tübingen und Ulm in einer Folgestudie fortgeführt wird. Die Anschluss-Studie B, die am Standort Ulm wieder an der Uniklinik für Kinder- und Jugendmedizin angesiedelt ist, untersucht Unterschiede in der Immunreaktion von Erwachsenen und Kindern auf SARS-CoV-2. Am Ulmer Teil der Folgestudie nehmen 70 Familien mit Kindern und Jugendlichen im Alter von null bis siebzehn Jahren teil. Voraussetzung war, dass es in jeder Familie mindestens eine nachgewiesene Coronavirus-Erkrankung gab. Von den insgesamt 260 Probanden wurden Blutproben genommen und Rachenabstriche gemacht. Im Mittelpunkt der Folgestudie steht die Bildung von Antikörpern nach einer Infektion mit dem Coronavirus. Weiterhin wird ein Immunprofil erstellt und die Immunreaktion gegen das Virus untersucht. Die Wissenschaftler wollen herausfinden, ob und wenn ja, wodurch sich die Immunreaktionen von Kindern und Erwachsenen unterscheiden. Außerdem soll erforscht werden, welche Rolle das Rezeptormolekül ACE2 bei der Verbreitung das Coronavirus im Körper spielt. Dafür wird untersucht, in welcher Konzentration die entsprechenden Rezeptorproteine im Blut vorkommen und ob ein Zusammenhang besteht zwischen der Höhe der ACE2-Konzentration, dem Infektionsrisiko und der Schwere der Erkrankung. Erste Ergebnisse der Anschluss-Studie B werden im Herbst erwartet.

Text: Andrea Weber-Tuckermann/red

Fotos: Shutterstock, Heiko Grandel/Uniklinik Ulm