6      Morphologie der Wurzel

Die Wurzel ist das dritte sog. Grundorgan des Kormus. Sie kommen bei den meisten Höheren Pflanzen vor, sie fehlen primär bei Psilophyten, aber auch sekundär bei Wasserpflanzen wie Ceratophyllum (Hornblatt) oder Utricularia (Wasserschlauch) oder bei der Orchideen­gat­tung Corallorhiza (Korallenwurz). Wurzeln sind charakterisiert - und damit von der Achse un­terschieden - durch das Fehlen seitlicher Anhangsorgane (Blätter), durch eine Wurzelhaube, ein zentrales (= radiales) Leitbünde und eine endogene Verzweigung.

    Psilotum triquetrum; Habitus

    Utricularia vulgaris; blühend

    Corallorhiza trifida, Wurzelstock (VDIA 23 051/6)

6.1      Radikation (Bewurzelungstypen)

Als Radikation bezeichnet man die Bewurzelung der Pflanze als Ganzes unter Berücksichtigung des Vorhandenseins und der Lebensdauer der Primärwurzel und der Ausbildung sprossbürtiger Wurzeln.

Bei der primär homorrhizen Radikation (= primäre Homorrhizie) besteht die gesamte Bewurzelung von Anfang an aus gleichartigen, sprossbürtigen Wurzeln. Dieser Radikationstyp kommt bei den Pteridophyten (außer Psilotatae) vor. Diese besitzen einen Embryo mit seitlicher, angeblich endogen entstehender „Primär"-wurzel, die man deshalb als sprossbürtig auffasst. Alle weiteren Wurzeln sind ebenfalls sprossbürtig, ihre Bildung geht der Sprossbildung einher.

Bei der sekundär homorrhizen Radikation (= sekundäre Homorrhizie) wird zunächst eine Primärwurzel gebildet, die aber frühzeitig abstirbt. Danach besteht -sekundär- die gesamte Bewurzelung aus gleichen, sprossbürtigen Wurzeln. Dieser Radikationstyp ist typisch für die Monokotyledonen. Sie besitzen einen bipolaren Embryo, dessen Primärwurzel früh oblitteriert. Während der Erstarkung werden an jedem Knoten zahlreiche sprossbürtige Wurzeln gebildet, ebenso beim teilweise auftretenden sekundären Dickenwachstum.

Bei allorrhizen Pflanzen besteht das Wurzelsystem aus der ausdauernden Hauptwurzel, die sich mehr oder weniger stark verzweigt. Dieser Radikationstyp kommt vor bei den Coniferophytina, den Cycadophytina und den Dikotyledonen. Sie besitzen einen bipolaren Embryo, dessen Primärwurzel mehr oder weniger langlebig ist. Es bildet sich ein System von Haupt- und Seitenwurzeln.

(Tafelzeichnung) Primäre und Sekundäre Homorrhizie und Allorrhizie

    Zea mays; Bewurzelung

    Howeia forsteriana; Bewurzelung

6.2      Wurzelsysteme

Als Wurzelsystem bezeichnet man die Gesamtheit der aus einer Hauptwurzel hervorgegangenen Wurzeln inklusive der Förderungserhältnisse in der Verzweigung.

Pflanzen, die in ihrem Wurzelsystem eine dominierende Hauptwurzeln entwickeln, bezeichnet man als Pfahlwurzler (z.B. Quercus, Lupinus, Pinus) und solche, bei denen die Hauptwurzel nicht gefördert ist, die Seitenwurzeln dagegen besonders stark entwickelt sind als Flachwurzler (z.B. Picea).

6.3      Die Hauptwurzel

Die Primärwurzel entwickelt sich mehr oder weniger stark und tief in den Boden, bei Holzgewächsen bis zu mehreren Metern. Bei Tamarix wurden Wurzeln bis in eine Tiefe von 30 m gefunden.

6.3.1    Pfahlwurzeln

Oft ist die Verzweigung der Hauptwurzel gehemmt, und es entstehen ausgesprochenen Pfahlwurzeln mit oft nur wenigen Nebenwurzeln (z.B. Taraxacum officinale, Aster­ace­ae). Diese besonders der Stoffspeicherung dienenden Wurzeln werden in einigen Fällen wirtschaftlich genutzt.

Genannt seien hier die Schwarzwurzel (Scorzonera hispanica, Asteraceae) und der Meerrettich (Armoratia lapathifolia, Brassicaceae).

    Scorzonera sp., Brassica sp., Capsicum sp.; Wurzelsysteme [Rauh, W. 1950: 30]

    Taraxacum officinale; Habitus

6.3.2    Rüben

Eine Rübe ist eine Hauptwurzel, die zum Zweck der Speicherung besonders  verdickt ist, und bei der in die Verdickung zusätzlich noch ein basaler Teil der Achse mit einbezogen ist, mindestens aber das Hypokotyl (auf die Abgrenzung von Sprossknolle, Sprossrübe und Rübe wurde schon im Kapitel „Achsenanatomie" eingegangen).

Bei Pflanzen mit Rüben kann man hinsichtlich der Lebensform zwischen Rübenpflanzen und Rübengeophyten unterscheiden. Rübenpflanzen sind hapaxanthe, meist bienne (2­jährige) Gewächse. Sie bilden im ersten Jahr ihrer Entwicklung meist eine Blattrosette und eine Rübe. Erst im zweiten Jahr wird mit der Ausbildung einer Infloreszenz die Entwicklung abgeschlossen. Beispiele für solche Rübenpflanzen sind unter den Nutzpflanzen die Karotte (Daucus carota, Apiaceae), die Arten der Gattung Beta (Chenopodiaceae) und der Rettich (Rhaphanus sativus var. nigra, Brassicaceae).

Rübengeophyten sind dagegen pollacanthe, perennierende Pflanzen. Sie bilden an den Rüben in jeder Vegetationsperiode Erneuerungsknospen. Beispiele hierfür sind etwa die Kermesbeere (Phytolacca americana, Phytolaccaceae), die Zaunrübe (Bryonia dioica, Cucur­bitaceae) oder der Gelbe Enzian (Gentiana lutea, Gentianaceae).

    Knollen und Rüben [Rauh 1950: 138]

    Wuchsformen der Rübenpflanzen [Rauh 1950: 128a]

    Daucus carota

    Beta vulgaris ssp. vulgaris var. alba

    Beta vulgaris ssp. vulgaris var. altissima

    Rhaphanus sativus var. niger; blühend

    Phytolacca americana; blühend

    Phytolacca americana; Rübe

    Bryonia dioica; blühend

    Bryonia alba; Rübe [@@@, 19@@: 99]

    Gentiana lutea; blühend

6.4      Sprossbürtige Wurzeln

Werden bei den Dikotylen am Spross zusätzliche Wurzeln (= sprossbürtige Wurzeln, Neben- oder Beiwurzeln) gebildet, so können diese unterschiedliche Form und Funktion haben.

Bei der Erdbeere (Fragaria vesca, Rosaceae) oder von Oxalis (Oxalidaceae) dienen sie der Ernährung der durch Ausläufer sich vegetativ vermehrenden Sprosse.

6.4.1    Wurzelknollen

Ebenso häufig ist eine Verdickung der sprossbürtigen Wurzeln in Dienst der Stoffspeicherung als sog. Wurzelknollen.

Als Beispiel seien hier die Dahlie (Dahlia sp., Asteraceae) genannt sowie die als Nahrungsmittel verwendete Batate (Ipomoea batatas, Convolvulaceae), die Zuckerwurz (Sium sisa­rum, Apiaceae), der Maniok (Manihot utilissima, Euphorbiaceae) und die Yamswurzel (Dioscorea batatas, Dioscoreaceae).

    Lathyrus tuberosus u. Sium sisarum, adventive Speicherwurze[Rauh 1950: 137]

    Ipomoea batatas; adventive Speicherwurzeln [Rauh, W. 1950: 135]

    Manihot utilissima u. Dioscorea batatas [Rauh, W. 1959: 136]

    Dioscorea esculenta; Anbau in Trinidad [Brücher, H. 1977: I.47]

    Dioscorea sp.; Landsorten [Brücher, H. 1977: I.46]

6.5      Adventivwurzeln

Als Adventivwurzeln werden solche Wurzeln bezeichnet, die auf Grund eines äußeren Reizes, z.B. einer Verletzung, entstehen, z.B. an Blattstecklingen oder bei einer Gallbildung (z.B. bei einigen Poa-Arten).

6.6      Wurzeln mit besonderer Funktion

Wie die Achse, so bilden auch die Wurzeln Differenzierungen aus, deren Hauptfunktion weder die Speicherung noch die reine Stoffversorgung oder die bloße Verankerung im Boden ist.

6.6.1    Zugwurzeln

Zugwurzeln dienen bei zwei- oder mehrjährigen Stauden dem Schutz der Erneuerungsknospen, die durch eine Wurzelverkürzung in Bodennähe oder unter die Erdoberfläche gezogen werden. Junge Rhizome oder Zwiebeln werden nach der Keimung durch solche Wurzeln unter die Erdoberfläche gezogen.

    Petroselinum crispum (Mill.) Nym. ssp. tuberosum Soo, Rüben Foeniculum vulgare u. Gen­tia­na lutea, Rübenwurzeln mit Kontraktionsringen [Rauh, W. 1950: 32]

Äußerlich sind die Zugwurzeln an einer starken Querringelung der Primärwurzeln ihrem proximalen Abschnitt zu erkennen, bei „Rüben" kann das Hypokotyl und das Epikotyl mit einbezogen werden. Die Verkürzung kann 10 - 25 % betragen. werden.

Bei Rhizom-, Zwiebel- oder Knollengeophyten werden die Speicherorgane der jungen Pflanze in die endgültige Wuchstiefe unter der Erdoberfläche gezogen. Das Rhizom des Spargels (Asparagus officinalis, Asparagaceae) wächst in einer Tiefe von 20 - 40 cm. Es erreicht diese endgültige Tiefe erst nach ca. 3-4 Jahren. Als weitere Beispiele seien die Türkenbundlilie (Li­li­um martagon, Liliaceae; mit Zwiebel), der Aronstab (Arum maculatum, Araceae; mit Sprossknolle) und der Krokus (Crocus sp., Iridaceae) genannt.

    Asparagus officinalis, Rhizom [Rauh 1950: 72]

    Lilium martagon; Zugwurzeln [Trol1937/43: 1946]

    Arum maculatum; Zugwurzeln [Troll, W. 1973: 106]

6.6.2    Haft- und Rankenwurzeln

Ebenso wie die Achse kann auch die Wurzel zur Festheftung der Pflanze an eine Unterlage zu einer Ranke oder einem Haftorgan umgebildet sein. Es handelt sich hierbei meist um sprossbürtige Wurzeln.

Haftwurzeln bilden etwa der Efeu (Hedera helix, Araliaceae) oder einige Tillandsia-Arten (Bromeliaceae). Die Vanille (Vanilla planifolia, Orchidaceae) bildet an ihren Sprossen außer Rankenwurzeln noch stärkere Nährwurzeln aus. Bei Philodendron werden ebenfalls zwei verschieden differenzierte Wurzeln ausgebildet (= Heterorhizie), Haftwurzen und Nährwurzeln.

    Vanilla planifolia; Rankenwurzeln [Troll, W. 1937-43: 2009] Rhizophora sp. u. Pandanus pacificus, Stelzwurzeln; Philodendron bipinnatifidum, Haftwurzeln; Gymnocactus man­dragona, Wasserspeicherwurze[Jurzitza, G. 1987: 105]

6.6.3    Stelzwurzeln

Stelzwurzeln ermöglichen oder erhöhen die Standfestigkeit der Pflanze.

Bei einigen Mangrovepflanzen sind es bogig (Rhizophora) oder schräg (Pandanus) abwärts wachsende, sprossbürtige Wurzeln.

Bei den sog. Würgefeigen (Ficus sp., Moraceae) bilden sich lange, dem Boden zustrebende Luftwurzeln, die im Verlauf ihrer Entwicklung durch reichliche Symphysen einen Scheinstamm bilden können. Der Wirtsbaum wird dabei vollständig umwachsen und stirbt schließlich ab.

Bei Ficus bengalensis u.a. bilden sich an den weit ausladenden Ästen sprossbürtige Wurzeln, die sich ihrerseits stammartig verdicken und die Äste abstützen. Es entsteht so ein ganzer, von nur einem Individuum gebildeter „Wald". Exemplare von Ficus bengalensis können einen Kronendurchmesser von 120 m und einer Grundfläche von 2,2 ha haben.

    Ficus sp. auf Adansonia [Trol1973: 351]

    Ficus bengalensis [Trol1937/43: 2123]

    Ficus bengalensis; Stelzwurzeln

6.6.4    Atemwurzeln

Einige im Sumpf oder in der Mangrove lebende Pflanzen bilden sog. Atemwurzeln aus, die über die Wasseroberfläche ragen und durch Ausbildung eines Durchlüftungsgewebes einen Gasaustausch ermöglichen.

Diese Atemwurzeln kommen durch unterschiedliche Entwicklungen zustande.

Bei Sonneratia handelt es sich einfach um negativ geotrope Seitenwurzeln. Diese bilden an der Basis abwärtsgerichtete "Ankerwurzeln" und dicht unterhalb des Substates flach streichen­de Nährwurzeln. Bei Jussieua repens (Onagraceae), einer Staude, werden an plagio­tropen Seitenzweigen, die entweder auf der Wasseroberfläche liegen oder sich unter Wasser befinden, negativ geotrope, sprossbürtige Wurzeln gebildet. Diese Pneumatorrhizen besitzen ein umfangreiches Aerenchym, während ihnen die Rhizodermis vollständig fehlt (Troll 1943: 2292). Bei der Sumpfzypresse (Taxodium sp., Taxodiaceae) und bei Ceriops roxburghiana kommt es zur Bildung von sog. Wurzelknien. Dies sind durch einseitiges sekundäres Dickenwachstum der Wurzel entstandene Zapfen.

    Sonneratia caseolaris Engler; Atemwurzeln

    Taxodium distichum; Habitus

    Taxodium distichum; Wurzelknie

6.6.5    Assimilationswurzeln

Einige epiphytische Orchideen (z.B. Chiloschista luniferus oder Taeniophyllum glandulosum) bilden nur noch kleine, schuppenförmige Blätter an den Infloreszenzen aus. Die Assimilation wird vollständig von den grünen und oft bandartig abgeflachten Wurzeln übernommen.

    Chiloschista luniferus; Assimilationswurzeln

    Taeniophyllum glandulosum

6.6.6    Sprossbildende Wurzeln

Wie schon im Kapitel „Wurzelbürtige Sprosse" besprochen, sind einige Wurzeln in der Lage, neue Sprosse zu bilden. Diese sprossbildenden Wurzeln dienen der vegetativen Vermehrung. Bei der Robinie (Robinia pseudacacia), bei der Ackerkratzdistel (Cirsium arvense) oder dem Ampfer (Rumex acetosella) bewirkt dies, dass diese Pflanzen in Kultur schwer auszurotten sind, da oft auch kleine Wurzelreste einen neuen Spross bilden können. Bei der Batate (Ipomoea batatas, Convolvulaceae) erfolgt die Vermehrung in Kultur durch Auspflanzen der Wurzelknollen. Diese bilden ihrerseits dann aus Wurzelknospen mehrere neue Sprosse.

    Rumex acetosella; Wurzelsprosse [Troll, W. 1973: 369]

    Euphorbia cyparissias; Wurzelsprosse [Troll, W. 1973: 370]

6.6.7    Wurzeldornen

Bei einigen Palmen, z.B. Acanthorrhiza oder Mauritia sind kurze, sprossbürtige Wurzeln am Stamm zu Dornen umgebildet. Die Festigkeit beruht auf einer Sklerifizierung der Wurzelrinde. Die Kalyptra wird bei in der Entwicklung abgestoßen.

Kurzinfo

Notizen / Zeichnungen: