Konsens herrschte bei den aus dem gesamten deutschsprachigen Raum angereisten Symposiumsteilnehmern darüber, dass digitale Lehre nicht das alleinige Lehrmodell der Zukunft sein werde. Prof. Britsch erklärt: „Hochwertige Präsenzlehre wird unter dem Eindruck steigender Studierendenzahlen ein limitierter Rohstoff sein. Wenn wir aber Technologie zur Entlastung der Präsenzlehre entwickeln, kann diese wieder eine stärkere Rolle übernehmen.“ 
Wie ein zukunftsträchtiges System in der digitalen Lehre aussehen kann, erläuterte Dr. Katharina Langer-Fischer den Symposiumsteilnehmern. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ulmer Institut für Molekulare und Zelluläre Anatomie präsentierte den aktuellen Stand des Projekts „MyMi.Mobile“. Diese von Lernanalyse begleitete App zur virtuellen Mikroskopie trägt zum Beispiel der Tatsache Rechnung, dass Medizinstudierende gerne mehr Gelegenheit haben, ihre anatomischen Kenntnisse am Mikroskop zu vertiefen. Durch eine Learning-Analytics-Komponente registriert „MyMi.Mobile“ auch, wo Studierende Schwierigkeiten haben und legt ihnen einzelne Aufgaben erneut zum Üben vor „MyMi.Mobile“ ist durch den Einsatz von Learning Analytics in der Lage, Erfolgs- und Misserfolgsmerkmale zu erkennen und fördert damit individuellen Studienerfolg. 
Als „sehr spannendes Beispiel“ für digitale Lehre im Medizinstudium sieht Prof. Niels Pinkwart von der Berliner Humboldt-Universität dieses gemeinsame Projekt der Unis Ulm und Freiburg, das auch vom renommierten Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) unterstützt wird. 
Pinkwart, Leiter des Lehrstuhls für Didaktik der Informatik / Informatik und Gesellschaft, in seinem Vortrag in Ulm, Learning Analytics seien nach seinem Verständnis nicht nur eine Anwendung Künstlicher Intelligenz, sondern Bestandteil von Veränderungsprozessen in der Lehre insgesamt. Die beim digitalen Lernen anfallenden Daten könnten eine gute Grundlage sein, um etwa auch Studiengangsreformen zu gestalten. „Wenn man bemerkt, dass einzelne Module nicht gut funktionieren, hat man statt des Bauchgefühls eine solide Datenbasis zur Verfügung.“ 
Die wichtigste Chance von Learning Analytics, so Pinkwart, sei ein stärker individualisiertes Lernen: „Studierende bekommen nicht nur ein recht gutes Bild davon, wo ihre Stärken und Schwächen liegen, sondern erhalten auch genau die Inhalte und Trainingsmöglichkeiten, die sie an diesem Punkt unterstützen.“ Eine Vielzahl digitaler Komponenten in der Lehre berge das Risiko in sich, dass Dozierende zu wenig direkte Kontakte zu den Studierenden haben. Learning Analytics erlaube es dagegen, den Wissensstand auch großer Kurse einzuschätzen. 

Insgesamt wünscht sich Pinkwart von den deutschen Universitäten eine Strategie für die Digitalisierung des Studiums. Es gebe zwar viele Ansätze auf „Inselebene“, aber noch keinen gemeinsamen Fokus. 
Ein bereits sehr erfolgreiches Modell digitaler Lehre stellte Prof. Bernhard Hirt, Direktor des Instituts für Klinische Anatomie und Zellanalytik der Universität Tübingen, mit dem Online-Modul „Sectio chirurgica“ vor, an dem sich hochschulübergreifend mehr als 35.000 Medizinstudierende angemeldet haben – jeder vierte in Deutschland. 
Dabei werden Operationen live ins Internet gestreamt und von Fachleuten kommentiert. Weit mehr als 100 Operationen an unterschiedlichsten Krankheitsbildern wurden bereits gestreamt. Dabei sei auch der „Entertainmentfaktor“ wichtig, sagt Hirt und meint damit die Abwechslung zwischen Fachinformationen und Live-Bildern, Spannungsbögen oder 3D-Simulationen. „Sectio chirurgica“ gelinge es überzeugend, die Aufmerksamkeit der Studierenden über anderthalb Stunden hinweg aufrecht zu erhalten. 
Gleichwohl betont Hirt, „Sectio chirurgica“ sei vor allem eine Ergänzung der Lehre. „Wir wollen den Studierenden anhand der Operationen zeigen, warum sie sich dieses Wissen aneignen.“ Zum Lernen werde aber auch weiterhin der Präsenzunterricht oder die Kleingruppenarbeit am Präparat gehören. 
Falsch, so Hirt, sei die Erwartung, die junge Generation übertrage die breiten digitalen Kompetenzen aus dem Privatleben vollkommen ins Studium. Daher seien die Dozierenden gefordert, ein breites Portfolio an Formaten zu entwickeln und anzubieten; digitale Medien seien in einer Reihe mit Buch, Skalpell oder Mikroskop zu sehen. 
In eine ähnliche Richtung argumentierte beim Lehrforschungssymposium auch Christian Braun, Medizinstudent in Ulm und Mitglied der Student Advisory Group, die unmittelbar an der Konzeption und Entwicklung von „MyMi.Mobile“ beteiligt war. „Es braucht gar nicht so sehr die ganz großen Erfindungen, vielen Studierenden reichen schon flächendeckende digitale Inhalte aus“, sagt Braun. Wichtig sei vor allem, digitale Formate zwar „groß“ zu denken, aber in kleinen Schritten umzusetzen, um den praktischen Alltag Studierender nicht zu überfordern. Ziel müsse sein, klassische Lehrmethoden mit digitalen Formaten zusammenzuführen. Die Stärken aller Lehrformen könnten sich so gegenseitig ergänzen.

Das 2. Ulmer Lehrforschungssymposium fand statt im Rahmen des durch das baden-württembergische Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst geförderten Digitalisierungsprogramms „Digital Innovations for smart teaching – better learning“. In diesem Programm fördert das Ministerium Projekte an 13 Hochschulen im Land.

 

Jens Eber, freier Journalist

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