An den Stellschrauben der Alterung drehen

Sonderforschungsbereich zu den Schnittstellen der Altersgesundheit

Die Knochen schmerzen, das Augenlicht wird schwächer und die Haut faltig. Ein hohes Lebensalter wollen die meisten Menschen erreichen – doch typische Krankheiten wie Demenz, Osteoporose oder Krebs sind gefürchtet. In einem neuen Sonderforschungsbereich zur Alterung wollen Ulmer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Weichen für einen gesunden Lebensabend stellen. Dabei nehmen sie molekulare und zelluläre Schnittstellen in den Blick, die alterstypische Beschwerden auslösen und beeinflussen können.

Die Lebenszeit wird oftmals durch eine mechanische Uhr symbolisiert. In jüngeren Jahren greift das Räderwerk perfekt ineinander, doch mit der Zeit können sich die Rädchen abnutzen und das Uhrwerk aus dem Takt geraten. Die Analogie zum Menschen ist offensichtlich: Wenn wir altern, werden Haut und Bindegewebe schlaff, Organe wie das Herz können aus dem Rhythmus geraten und die Regenerationsfähigkeit lässt nach. Im neuen Sonderforschungsbereich (SFB) "Aging at Interfaces" wollen Ulmer Forschende an den Stellschrauben des Alterns drehen, um nicht nur ein langes, sondern auch ein gesundes Leben zu ermöglichen.

Wir sind überzeugt, dass sich der Alterungsprozess an solchen Schnittstellen regulieren lässt

 

Forscherin schaut in Miskroskop
Interdisziplinäre Forschung im neuen Alterns-SFB

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SFB-Sprecher Prof. Hartmut Geiger
SFB-Sprecher Prof. Hartmut Geiger

Der neue Verbund zwischen Medizin und Naturwissenschaften begreift das Altern als stark zusammenhängenden, ineinander verzahnten Prozess: Ein alterndes Immunsystem beeinflusst zum Beispiel den Zustand von Haut und Bindegewebe, was sich wiederum auf die Organfunktion auswirkt. Zentral für dieses Konzept sind winzige Schnittstellen auf der molekularen und zellulären Ebene, die den gesamten Alterungsprozess bestimmen können. Das mögen Verbindungen zwischen Nervenzellen sein (Synapsen) oder Stammzellen, die mit ihren Nischen interagieren. Kommt es an solchen Schnittstellen zu Störungen, haben typische Erkrankungen leichtes Spiel. Auf der anderen Seite bieten diese "Stellschrauben" ungeahnte Chancen: Wird an ihnen gedreht, können gleich mehrere Alterserscheinungen positiv beeinflusst werden. "Wir sind überzeugt, dass sich der Alterungsprozess an solchen Schnittstellen regulieren lässt. Bereits kleine Veränderungen haben womöglich große Auswirkungen: Beispielsweise könnten sich sowohl Nervenfehlfunktionen als auch Schwächen des Immunsystems durch zielgerichtete molekulare Veränderungen auf einen Schlag bessern", erläutert Professor Hartmut Geiger, Sprecher des Sonderforschungsbereichs an der Uni Ulm. Deshalb konzentrieren sich die 18 SFB-Teilprojekte nicht auf einzelne Krankheitsbilder, sondern auf "Schrittmacher", die den Alterungsprozess vorantreiben: Schnittstellen des Nervensystems, der Immunantwort und von Organ-Systemen.

Der neue SFB wurzelt in der Grundlagenforschung. Trotzdem wird die Übertragung der Forschungsergebnisse in klinische Studien und konkrete Therapien von Anfang an mitgedacht. Ein Universalmedikament, das wie ein Jungbrunnen alle Alterserscheinungen heilt, ist allerdings nicht das Hauptanliegen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschafter. Vielmehr gilt es, degenerative Prozesse von der molekularen Ebene an zu verstehen und Interventionen für einen gesunden Lebensabend abzuleiten.
Als ein erstes Etappenziel wollen die SFB-Forschenden Biomarker identifizieren, mit denen das biologische in Abgrenzung zum chronologischen Alter bestimmt werden kann. "Die Entscheidung, ob eine Person eine hochdosierte Chemotherapie bekommt, sollte nicht alleine vom Geburtsjahr abhängig  gemacht werden. Zuverlässige Marker, mit denen sich das biologische Alter messen lässt, würden bei der Einschätzung helfen, wie körperlich fit eine Patientin oder ein Patient wirklich ist. Solche Biomarker wären ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur personalisierten Altersmedizin", erklärt Professor Hartmut Geiger, Leiter des Instituts für Molekulare Medizin. Auch Forschungsergebnisse ließen sich mit solchen Markern untermauern: Beispielsweise ist es einem Team um Geiger gelungen, die epigenetische Lebensuhr von betagten Mäusen zurückzudrehen. Nach Verabreichung der Substanz CASIN lebten die Nager etwa zehn Prozent länger als ihre unbehandelten Artgenossen.

Hand in weißen Hygienehandschuhen hält Gläschen mit CASIN Substanz
Mithilfe der Substanz CASIN lässt sich das Leben von Mäusen verlängern

Auf dem Weg in die klinische Anwendung

Junge Maus links und deutlich gealterte Maus rechts
Junge (links) und deutlich gealterte Maus

Gestörte Wund- und Knochenheilung, Immunschwäche und eine nachlassende Organfunktion: Große Hoffnungen der Ulmer Altersforschenden ruhen auf stammzellbasierten Therapien. Ein therapeutischer Absatz der stellvertretenden SFB-Sprecherin Professorin Karin Scharffetter-Kochanek ist bereits auf dem Sprung in die Praxis. Mit so genannten mesenchymalen Stammzellen lässt sich die verlangsamte Wund- und Knochenheilung bei älteren sowie vorerkrankten Personen anregen. Die Ärztliche Direktorin der Klinik für Dermatologie und Allergologie glaubt, dass klinische Studien zu anderen Formen der Stammzelltherapie in zehn bis zwölf Jahren starten können. Am Institut für Molekulare Medizin ist zum Beispiel die Verjüngung blutbildender Stammzellen im Labor geglückt. Dabei handelt es sich um den Reparaturservice des Körpers, der Gewebe, Organe und das blutbildende System wartet. Wird an der Stellschraube Stammzellregeneration gedreht, könnte sich der körperliche Gesamtzustand deutlich bessern.

Auf dem Weg in die klinische Anwendung nutzen SFB-Forschende aber nicht nur Zellkulturen und betagte Mäuse als Alterungsmodell. Ein ganzes Teilprojekt widmet sich dem unglaublichen Regenerationspotenzial des Zebrafischs. Der Wasserbewohner ist in der Lage, verletzte Körperteile selbstständig und kurzfristig zu heilen. Deshalb fragt das Konsortium: Was kann der Mensch vom Zebrafisch lernen? Weiterhin setzt der Sonderforschungsbereich auf Blut- und Gewebeproben aus der ActiFE-Studie, der rund 1500 ältere Personen aus Ulm und Umgebung angehören, sowie auf Computersimulationen und Methoden der Künstlichen Intelligenz.

Interdisziplinarität als Schlüssel zum Erfolg

Der Blick auf Methoden und Teilprojekte zeigt: Eine interdisziplinäre Ausrichtung des Sonderforschungsbereichs zwischen Medizin und Naturwissenschaften ist der Schlüssel zur klinischen Anwendung. ”Im SFB beschäftigen wir uns mit neuen Fragestellungen an den Schnittstellen der Alterung: Beispiele reichen von Genderaspekten bei der DNA-Schadensreparatur bis zur beschleunigten Alterung HIV-Infizierter. Um unseren Themen die notwendige Tiefe zu verleihen, sind wir unbedingt auf Kooperationen angewiesen—, erläutert Geiger. Gemeinsam werden sie in den kommenden vier Jahren die Stellschrauben der Altersgesundheit justieren und zum Beispiel prüfen, inwiefern sich die Stammzellverjüngung oder die Lebensverlängerung der Mäuse auf Menschen übertragen lassen.

Bis es CASIN oder ein anderes wirksames Anti Aging-Mittel in der Apotheke zu kaufen gibt, wird aber noch viel Zeit vergehen. Bleibt also die Chance, mit einem vernünftigen Lebensstil, moderatem Sport und guter Ernährung optimale Voraussetzungen für ein gesundes Alter zu schaffen. Wie sich die Weichen für ein gesundes Leben bereits in jüngsten Jahren stellen lassen, wird übrigens auch an der Universität Ulm untersucht: Im neu eingerichteten Standort des Deutschen Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin. So wird die Lebensuhr von Anfang an richtig aufgezogen.

Frau mit Maske während Laborarbeiten am Institut für Molekulare Medizin
Laborarbeit am Institut für Molekulare Medizin

Die Alternsforschung gehört zu den strategischen Entwicklungsbereichen der Universität Ulm. Wichtige theoretische Grundlagen sind im "aging research center" und im Bioinformatik-Projekt "Systar" gelegt worden. Ende 2020 haben Alternsforschende um Prof. Hartmut Geiger und Prof. Karin Scharffetter-Kochanek den fünften Sonderforschungsbereich (SFB) der Universität eingeworben. Der SFB 1506 "Aging at Interfaces" oder "Alterung an Schnittstellen" wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für zunächst vier Jahre mit rund 11 Millionen Euro gefördert. Künftig bündeln 29 Expertinnen und Experten aus Neurologie, Dermatologie, Immunologie, Epidemiologie sowie aus verschiedenen Natur- und Lebenswissenschaften ihr Wissen im neuen Sonderforschungsbereich. Neben der Universität und dem Universitätsklinikum Ulm sind die Agaplesion Bethesda Geriatrie Ulm, die Universitäten Tübingen und Aachen sowie das israelische Weizmann Institute of Science beteiligt.

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Text: Annika Bingmann
Fotos: anncapictures/Pixabay, Elvira Eberhardt, Adobe Stock
Videos: Daniela Stang