Wege aus der Mental Health-Krise

Wie die Uni Ulm Studierende und Beschäftigte unterstützt

Der Übergang zwischen Schule und Studium mit seinen vielen Veränderungen ist eine besondere Herausforderung im Leben junger Menschen. Die Belastungen, die in der Corona-Zeit hinzukamen, wirken bei vielen Studierenden bis heute nach. Auch Beschäftigte fühlen sich unter Druck. Wie geht es uns an der Uni Ulm? Welche präventiven Angebote gibt es? Und wo erhält man in akuten Krisen Hilfe? Eine Bestandsaufnahme.

Es sind Zahlen, die aufhorchen lassen. Von allen Studierenden in Deutschland haben 16 Prozent gesundheitliche Beeinträchtigungen. Die bei weitem größte Gruppe innerhalb dieser 16 Prozent sind Studentinnen und Studenten mit psychischen Erkrankungen: Ihr Anteil beträgt 65 Prozent. Die Werte stammen aus der aktuellen Sozialerhebung des Deutschen Studierendenwerks. Ermittelt wurden sie bereits im Sommer 2021, zu einer Zeit also, als weder Krieg noch Inflation absehbar waren. Die Organisation betont, dass die Belastungen seitdem noch gravierender geworden sind und spricht von einer Mental Health-Krise der Studierenden.

»Es gab europaweit noch nie eine Generation, die sich psychisch so belastet fühlt«, sagt auch Professor Jörg Fegert, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie der Uniklinik Ulm. Er bezieht sich auf Zahlen einer großen Studie des McKinsey Health Institute mit Unterstützung von Fachleuten der Europäischen Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, deren Präsident Fegert ist.
Im Frühjahr 2022 wurden 10 000 Menschen in zehn europäischen Ländern befragt, darunter fast zwei Drittel aus der Generation Z. Eines der Ergebnisse: In Deutschland schätzen 19 Prozent der jungen Menschen ihre psychische Gesundheit als schlecht oder sehr schlecht ein. An den Universitäten, so Fegert, wirkten auch die Belastungen aus der Pandemie auf die Studierenden nach.

Illustration von verschiedenen Gefühlszuständen

»Die sozialen Fertigkeiten, die man im Studium lernt, sind von zentraler Bedeutung«

Als junger Mensch, der sich gerade von den Eltern abnabelt und zum ersten Mal alleine wohnt, vielleicht gar in eine neue Stadt zieht, hat man in dieser Zeit des Übergangs eigentlich genug zu tun. Sich mit der eigenen Identität auseinandersetzen, Freundschaften schließen, erste Liebesbeziehungen eingehen, Feiern, Lebensziele und Ideale finden: »Alle Dinge, die ein Studium ausmachen, waren während Corona weg.« Ängste und Depressionen stiegen sehr stark an – je rigider die Kontaktverbote waren, desto mehr. Erhöhter Social Media-Konsum verstärkte dies weiter. Weil die Studierenden keinen Stresssituationen wie etwa dem Halten eines Referats mehr  ausgesetzt waren, konnten sie diese nicht üben und keine Sicherheit darin gewinnen. Auch die Prüfungsangst sei deutlich angestiegen. Der Kinder- und Jugendpsychiater war froh, als der Präsenzbetrieb wieder aufgenommen wurde, denn: »Die sozialen Fertigkeiten, die man im Studium lernt, sind von zentraler Bedeutung.«

Eine weitere Erkenntnis aus der McKinsey-Studie: Die (Selbst-)Stigmatisierung psychischer Erkrankungen nimmt wieder zu. Ein großes Problem, findet Fegert: »Die jungen Menschen sehen psychische Erkrankungen als Charakterschwäche und machen sich selbst Vorwürfe – das lähmt.« Der Psychiater rät Studierenden deshalb dringend: »Wenn man bei sich Schwächen sieht, sollte man nicht warten, bis sie immer schlimmer werden, sondern reagieren und sich unbedingt schnell Hilfe suchen. Es gibt keinen Grund für irgendeine Scham.« Und, ganz wichtig: Bei Suizidgedanken darauf bestehen, dass man einen Termin bekommt. Eigentlich sei die psychiatrische Versorgungslage in Deutschland gut. Doch 40 Prozent der jungen Menschen wüssten nicht, wo sie schnell Hilfe erhalten – für Fegert eine schockierende Zahl.

Eine Möglichkeit, Rat und Hilfe zu bekommen, ist die Psychosoziale Beratungsstelle des Studierendenwerks Ulm. Auch dort ist der Bedarf in den vergangenen Jahren stark angestiegen, weiß Krstimir Krizaj, Leiter der Abteilung Recht, Wohnen, Soziales. Suchten im Jahr 2018 noch 388 Studierende Hilfe, waren es 2022 schon 486 junge Menschen. Ein Wert, der in diesem Jahr bereits überschritten wurde: Bis Ende September 2023 haben sich 499 Studierende an die Beratungsstelle gewandt, berichtet Krizaj.

Illustration einer gestressten Person vor einem vollen Schreibtisch

Nach Einschätzung der Beraterinnen kommen etwa 80 Prozent der Ratsuchenden mit krankheitswertigen psychischen Beschwerden auf sie zu. »Allerdings muss man dies in Relation zur Gesamtzahl der Studierenden sehen«, so der Abteilungsleiter. Die häufigsten Anfragen betreffen depressive Verstimmungen, Antriebs- und Motivationslosigkeit,
Prüfungsängste sowie Leistungsschwierigkeiten, Einsamkeit, Stress und Selbstwertprobleme. Das Studierendenwerk bietet zwar auch Kurse an. Allerdings: »Die Kursnachfrage ist im Verhältnis zur Einzelberatung relativ gering«, sagt Krizaj. Am meisten nachgefragt waren zuletzt »Wertschätzende Kommunikation«, »Don’t Panic!« – Regulieren von Angst und Stress bei Prüfungen und Präsentationen sowie »Manage Stress«.

Was können Kommilitoninnen und Kommilitonen, was können Lehrende tun, denen sich ein junger Mensch anvertraut oder denen auffällt, dass es einem ihrer Studierenden nicht gut geht? Wichtig sei laut Professor Fegert, dabei zu helfen, die Angst vor einem Beratungstermin oder einer Therapie zu überwinden. Freunde tun gut daran, darauf zu bestehen, dass der oder die Betroffene sich professionelle Hilfe holt und sie auch dorthin zu begleiten. Auch Lehrende sollten ihren Studierenden zuhören und für sie da sein. Vor allem, rät Fegert, sollte man aufmerksam sein und nachfragen, wenn sich jemand zurückzieht.
Und was kann man selbst tun? »Wenn einem die Decke auf den Kopf fällt: In den Chor oder zum Sport gehen – das ist ein wichtiger Teil der Selbstfürsorge.« Wichtig sei, andere Menschen zu treffen und etwas mit seinem Körper anzufangen, damit Stress abgebaut wird.

Bewegung und Entspannung als Gegenprogramm zu Stress im Studium oder am Arbeitsplatz empfiehlt auch Dr. Nanette Erkelenz. Sie leitet den Hochschulsport sowie das Betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) der Uni Ulm. In rund 70 kostengünstigen BGM-Kursen pro Jahr geht es um Bewegungsförderung, Ernährung, psychische Gesundheit und Stressreduktion. Nach der Corona-Delle steigt die Nachfrage nach Kursen vor Ort insbesondere seit diesem Jahr wieder stark. »Die Leute wollen keine Online-Angebote mehr, sie wollen auch den sozialen Aspekt haben und sich wieder treffen«, weiß Erkelenz aus Gesprächen mit Teilnehmenden.

Anlaufstellen und Präventionsangebote

Psychosoziale Beratungsstelle des Studierendenwerks Ulm, Tel. (0731) 79031 5100, Mail: pbs(at)studierendenwerk-ulm.de, Online-Terminvereinbarung möglich

Gesundheitscoaching der Universität Ulm, Dr. Nanette Erkelenz, Tel. (0731) 50 22070, Mail: nanette.erkelenz(at)uni-ulm.de

Beschäftigtenberatung der Universität Ulm, Dr. Beata Williams, Mail: beschaeftigtenberatung(at)uni-ulm.de

Psychotherapeutische Hochschulambulanz der Universität Ulm, Tel. (0731) 50 31602, Mail: psychotherapieambulanz(at)uni-ulm.de

Bei akuten Notfällen und psychischen Krisen:

Immerhin rund ein Viertel der Beschäftigten der Universität nutzt das Angebot. In die 125 Hochschulsport-Kurse pro Woche gehen um die 3000 Studierende. »Ich glaube, dass es wichtig ist, einen Ausgleich zu Beruf und Familienalltag zu schaffen«, ist Erkelenz überzeugt. Wie dieser aussieht, kann variieren – doch diese Fragen können dabei helfen, das Richtige zu finden: »Was macht mir Spaß? Wo gehe ich wirklich drin auf?« Ob man dann im Chor singt, Autogenes Training macht oder sich beim Sport auspowert, könne man individuell entscheiden. »Wenn ich sehr angespannt bin, produziert der Körper viele Stresshormone, wie Cortisol und Adrenalin«, erklärt Erkelenz. »Diese Stresshormone kann ich durch sportliche Aktivität genauso gut abbauen wie durch Singen.« Das schaffe Platz für Glückshormone und positive Stimmung. »Wichtig ist, dass ich es gerne mache.« Neben den Sportkursen gibt es auch viele BGM-Angebote zur Stressreduktion, darunter Klangreisen, Autogenes Training, Qi Gong oder Restoratives Yoga. »Wir versuchen im Hochschulsport und BGM ein möglichst vielseitiges Programm anzubieten, damit alle das Richtige für sich finden können.«

»Stresshormone kann man durch sportliche Aktivität genausogut abbauen wie durch Singen«

 

Erkelenz selbst bietet außerdem ein Gesundheitscoaching im Einzelsetting an. Dabei gehe es häufig um Stressbelastung, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und darum, wie man Zeit für sich selbst schaffen kann. Am häufigsten kommen Beschäftigte in das Coaching, weil sie von der Menge ihrer Aufgaben überfordert sind, berichtet Erkelenz. »Sie machen ihre Arbeit gerne und gut, aber sie empfinden ihre Arbeit nie als erledigt.« Auch die Mehrfachanforderung durch Beruf, Familie und Dauerkrisen belastet viele Arbeitnehmende. Das BGM bietet bei Herausforderungen und Überlastungen am Arbeitsplatz daher zudem eine Beschäftigtenberatung durch eine Therapeutin mit eigener Praxis in der Ulmer Stadtmitte.

»Unter den Studierenden gibt es eine ganz große Nachfrage nach Stressregulations-Themen«, sagt die Sportwissenschaftlerin: »Psychische Erkrankungen sind ein großes Thema.« Im Hochschulsport wollen Dr. Nanette Erkelenz und ihre Stellvertreterin Dr. Meike Traub deshalb die Gesundheits- und Resilienzförderung verstärkt in den Fokus rücken. Dabei geht es etwa um das Vermeiden von Prüfungsangst durch Prüfungsplanung oder Tipps zur gesunden und günstigen Ernährung in stressreichen Zeiten. Auch das bereits große Fitness- und Gesundheits-Angebot soll weiter ausgebaut werden, denn »die Kurse sind proppenvoll«.

Illustration von joggender und singender Person

Text: Christine Liebhardt
Illustrationen: Beniamino Raiola