Grüner Schatz der Universität
Forschen und Lernen im Botanischen Garten
Im Apothekergarten schwirren die Insekten, Wiesenkräuter duften in der sommerlichen Hitze, der Tagliliengarten leuchtet in Rot, Gelb und Grün. Im Wald und im Farntal ist es schattig und kühl. Wer den Botanischen Garten im Sommer durchstreift, erlebt einen Ort von betörender Sinnlichkeit. Nicht nur die Schönheit der Natur lässt sich dort genießen. Der Garten ist auch ein Ort der Erkenntnis und ein großer Schatz für die Wissenschaft.
Der Botanische Garten der Universität Ulm gehört mit seiner Fläche von 28 Hektar zu den größten in Deutschland. „Für die wissenschaftliche Bedeutung ist jedoch die Anzahl und Vielfalt an kultivierten Arten und ökologischen Lebensräumen entscheidend“, sagt Professor Marian Kazda, Leiter des Instituts für Systematische Botanik und Ökologie sowie des Botanischen Gartens.
Mit rund 5000 verschiedenen lebenden Pflanzen und einer Vielzahl unterschiedlichster Naturräume gehört der Ulmer Garten mit seinen fünf Gewächshäusern und dem in sanften Hügeln angelegten Freigelände auch hier zu den Großen.
Die Gartenanlage der Uni ist Heimat für eine Vielzahl von Pflanzen und Tieren. Wertvoll für Forschung und Lehre sind vor allem die besonders artenreichen naturnahen Lebensräume. Doch auch die bewirtschafteten Flächen liefern wichtige Erkenntnisse, beispielsweise wie sich menschliche Eingriffe auf die Natur auswirken. Zum Freiland gehören sowohl Natur- als auch Nutzflächen - vom "Urwald" über den Hutewald zum Arboretum, dazu die Wiesen mit Ackerwildkräutern, Blumen und Streuobstbäumen. Nicht zu vergessen die Nutz- und Schaugärten wie Apotheker-, Bauern-, Rosen- und Tagliliengarten. Mit dem Feuchtbiotop und dem 2014 angelegten Farntal kommen zwei weitere - ökologisch besonders wertvolle - naturidentische Lebensräume hinzu, jeweils geprägt durch ein spezielles Mikroklima und eine ganz eigene Vielfalt in Flora und Fauna. In den Gewächshäusern gedeihen Pflanzen, wie sie im tropischen Berg- und Tieflandregenwald zu finden sind, aber auch botanische Überlebenskünstler, die die Trockenheit lieben. Zu finden sind dort Bromelien, Farne und Orchideen sowie eine Vielzahl von Nutzpflanzen und anderen Anschauungs-beispielen für die pflanzliche Anpassungsfähigkeit.
"Der Botanische Garten gehörte früher traditionell zum 'Königreich' der Professoren für pflanzliche Systematik," erklärt Professor Marian Kazda, der Leiter des Botanischen Gartens.
Heute steht der Garten als zentrale Einrichtung der Universität allen interessierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur Verfügung. Über ein enges Netzwerk werden Pflanzen und Pflanzenteilen weltweit mit wissenschaftlichen Einrichtungen und botanischen Anlagen getauscht. Wissenschaftliche Hauptnutzer sind in Ulm natürlich die Biologen, darunter vor allem die Botaniker, Zoologen und Ökologen, aber auch Mediziner, Physiker und Ingenieure profitieren von Pflanzen und Infrastruktur.
Die Natur verstehen lernen
In der Biologie war die Botanik lange Jahre als sprödes Paukfach gefürchtet. Vor allem die Taxonomie mit ihrer Vielzahl an Arten, Gattungen, Familien, Ordnungen, Klassen und Abteilungen hat Generationen an Studierenden zugesetzt. Bestimmungsbücher, wie sie damals jeder Biologiestudent und jede -studentin bei Exkursionen ins Feld bei sich trugen, sieht man heute im Botanischen Garten allerdings kaum noch. Nicht, dass botanisches Grundlagenwissen in der Biologenausbildung keine Rolle mehr spielt – noch immer gibt es eine Vielfalt an Pflichtveranstaltungen und freiwilligen Kursen, die dazu im Botanischen Garten selbst oder mit dessen Hilfe durchgeführt werden.
Jährlich werden rund 7000 Pflanzen beziehungsweise Pflanzenteile – in jeweils blühendem Zustand – allein für die Pflichtveranstaltungen im 2. Semester zur Verfügung gestellt, vor allem für die Bestimmungsübungen. Im Lehrgewächshaus gedeihen darüber hinaus Gewächse wie tropische Farne und Wasserpflanzen für den studentischen Unterricht und die Forschung. "Wir haben hier ein lebendiges Laboratorium“, so die Kustodin des Botanischen Gartens, Monika Gschneidner. Im Herbarium der Universität Ulm sind in getrockneter Form mehr als 80 000 Belegexemplare von Pflanzen aus Europa, Süd- und Mittelamerika archiviert, rund 50 000 davon gehören zur Tropensammlung.
Zum Spektrum der Lehre in diesem Bereich gehören die Grundübungen zur Ökologie und Botanik, aber auch speziellere Veranstaltungen zur Funktionsmorphologie und Tropenökologie, bei denen beispielsweise die Wasserversorgung der Pflanze im Mittelpunkt steht oder die Fraßanfälligkeit von Blättern. Die Studierenden werden bei der Lehre in die aktuelle Forschung mit einbezogen, ob es dabei um Fragen der Blütenökologie geht, um Methoden zur Biodiversitätserfassung oder um die Rolle von Feuchtgebietspflanzen für den Naturschutz und die Abwasserreinigung – wie bei der internationalen Summer School „Soil & Water“ oder dem Modul „Wetland Ecology“.
„Gerade junge Menschen entdecken die Faszination an der Pflanzenwelt wieder“, meint der Leiter des Botanischen Gartens, Professor Marian Kazda. Auch die moderne Technik ist dem nicht abträglich. Viele Kursteilnehmer greifen heute zum Smartphone, um sich vor Ort in der Natur über Pflanzen und Tiere zu informieren.
Doch Berührungsängste der Natur gegenüber bestehen wohl weiterhin. „Die Angst vor Insekten ist bei vielen Studierenden noch immer hoch und auch in der Bevölkerung eher größer geworden. Ohne 'Autan' gehen viele nicht mehr ins Feld, aus Furcht vor Mücken, Zecken und Wespen“, so der Ökologe Manfred Ayasse, der selbst weitaus besorgter darüber ist, dass die Zahl der Insekten so rasant zurückgeht.
Pharmakologie und Medizin
Der Apothekergarten ist eine Augenweide für den Menschen und ein Paradies für Falter, Käfer und Bienen. Für die Medizin ist er nicht weniger wertvoll: Auf der Fläche von rund 2000 Quadratmetern wachsen über 200 Arten an bekannten Arzneipflanzen. Das Wissen um die heilsame, beziehungsweise tödliche Wirkung bestimmter Blüten, Blätter und Samen reicht weit in die Vorzeit. Und auch heute noch wird in der Pflanzenwelt nach bioaktiven Wirkstoffen gesucht.
Für die Lehre in der Pharmakologie und der Toxikologie stellt der Botanische Garten eine Vielzahl von Arzneipflanzen zur Verfügung, spezielle Führungen im Apothekergarten und den Gewächshäusern ergänzen das Lehrangebot. Zu den Nutzern gehören auch das Institut für Naturheilkunde und klinische Pharmakologie sowie der Forschungsbereich für Integrative Medizin in der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie. Denn viele Patienten wollen heute nicht nur von den Errungenschaften der modernen Medizin profitieren, sondern vertrauen auch auf ganzheitliche Heilmethoden und die heilende Kraft der Natur.
Wie bereits viele Philosophen der Antike wussten, hat allein das Grün der Natur eine wohltuende Wirkung, die anregend und beruhigend zugleich ist. Gerade die griechischen Denker wussten die besondere Aura schöner Gärten sehr zu schätzen. Diesen Effekt machen sich nun auch Ulmer Mediziner der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie zunutze: für wöchentliche Therapiesitzungen mit Patienten im Botanischen Garten. Denn bei vielen psychischen Störungen und Erkrankungen hilft die Natur dabei, die menschlichen Selbstheilungskräfte zu aktivieren. „Dabei weckt die Vielfalt an Farben, Formen und Düften nicht nur Sinne, das viele Grün hilft auch dabei, Stress abzubauen und zu entspannen“, so Klinikleiter Professor Harald Gündel.
Umweltbildung im „Grünen Klassenzimmer“
Diese Idylle erweist sich zudem als ein wunderbarer außerschulischer Lernort. Im direkten Kontakt mit der Natur lernen Schulkinder aller Klassenstufen im „Grünen Klassenzimmer“ grundlegende ökologische Zusammenhänge kennen.
"Dabei geht es nicht nur um biologische Fachinhalte, sondern um eine breite Nachhaltigkeits- und Umweltbildung“, so Professor Jürgen Drissner, Wissenschaftlich-Pädagogischer Leiter für Bildung und Didaktik im Botanischen Garten, der im September an die Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd wechselt. Im letzten Jahr haben über 850 Schülerinnen und Schüler aus Ulm und Umgebung das „Grüne Klassenzimmer“ besucht.
Von dieser Einrichtung, die von der Stadt Ulm und den „Freunden des Botanischen Gartens“ unterstützt wird, profitiert auch die fachdidaktische Lehramtsausbildung an der Universität. So ist die pädagogische Arbeit im „Grünen Klassenzimmer“ nicht nur Gegenstand zahlreicher Abschlussarbeiten für das Lehramt, sondern auch pädagogische Werkstatt zur Erprobung und Evaluation neuer didaktischer Methoden. Viele angehende Fachlehrer stehen dabei zum ersten Mal vor den Schülern.
Arten schützen und Artenreichtum schätzen
Artenschutz und Biodiversität sind im Botanischen Garten nicht nur Gegenstand der Umweltbildung, sondern sie werden auch aktiv praktiziert und gefördert. Im Jahr 2017 wurden dafür allein von Ulm aus über die internationalen Pflanzen- und Samenbörsen rund 1300 Samenproben an deutsche und ausländische Einrichtungen verschickt.
Eine weitere Initiative zur Sicherung der Artenvielfalt widmet sich einer besonderen Art von Wildpflanzen: den Ackerkräutern. Durch die Intensivierung der Landwirtschaft und den großflächigen Einsatz von Düngemitteln und Insektiziden sind viele Ackerwildkräuter massiv gefährdet. Auf Ackerrandstreifen der Dreifelderwirtschaft werden im Botanischen Garten über 50 verschiedene Arten dieser Wildpflanzen kultiviert. Die Ulmer kooperieren dabei mit anderen deutschen Botanischen Gärten über das Portal für Erhaltungskulturen Einheimischer Wildpflanzen.
Da man nur schützen kann, was man auch kennt, spielt die wissenschaftliche Dokumentation eine Schlüsselrolle. Eines der wichtigsten Datenbanksysteme für Biodiversitätsdaten ist SysTax. Die Datenbank zur zoologischen und botanischen Systematik wurde vor rund 30 Jahren an der Universität Ulm entwickelt. Insgesamt 67 Botanische Gärten aus dem In- und Ausland sind heute an dem Gemeinschaftsprojekt beteiligt, über das mittlerweile rund 2,6 Millionen Datensätze über Pflanzen und Tiere erfasst sind. Dazu gehören nicht nur die taxonomischen Daten sondern auch Informationen zum Fund sowie Ton- und Bildmaterial. „Dieser biologische Datenschatz sorgt dafür, dass das Wissen über Tiere und Pflanzen weltweit zugänglich ist“, sagt SysTax-Experte Dr. Jürgen Hoppe.
Wichtig für den Erhalt der Artenvielfalt ist auch die Aufklärung der Bevölkerung. Die Ulmer Biologen setzen sich für einen durchgreifenden Bewusstseinswandel ein; in der Hoffnung, dass in Zukunft die Schotterwüsten aus den Vorgärten verschwinden und im Garten hinter dem Haus wieder Platz ist für ein bisschen Unordnung wie Holzstapel, Gestrüpp und Steinhaufen. „Denn vieles, was den Deutschen ein Dorn im Auge ist, wissen Pflanzen und Tiere sehr zu schätzen“, betont der Ökologie- und Wildbienenexperte Professor Manfred Ayasse.
Manchmal tut man eben auch gut daran, einfach etwas liegen zu lassen. Im Botanischen Garten der Uni Ulm weiß man das längst. Auch dort gibt es Flächen, wo die Natur tun und lassen kann, was sie will. Der Mensch ist ihr dabei ein bisschen behilflich.
Ein grüner Schatz auch für die Menschen in der Region
Was für eine Perle der Natur der Botanische Garten der Universität ist, weiß man nicht nur an der Uni, sondern auch in der Stadt und der Region. So haben im letzten Jahr rund 3500 Menschen an Führungen, Vorträgen und Workshops im Botanischen Garten teilgenommen. Mehr als 3000 zahlende Besucher wurden 2017 in den Gewächshäusern gezählt, und die Besuche im Freigelände übersteigen diese Zahl noch um ein Vielfaches.
Ein besonderes Highlight der Öffentlichkeitsarbeit des Botanischen Gartens ist das alljährliche Sommerfest im Juni mit Vorträgen, Familienführungen und Exkursionen. Von der faszinierenden Welt der fleischfressenden Pflanzen und über das vielfältige Leben am Teich bis hin zur heilenden Wirkung von Arzneipflanzen wurde in diesem Jahr der Themenbogen gespannt. Dazu kamen zahlreiche Info- und Verkaufsstände sowie Mitmach- und Bastelangeboten. Die BUND Hochschulgruppe hatte eigens für das Sommerfest ein Ratespiel über Blüten und ihre Bestäuber entwickelt. Mitveranstaltet und gefördert wird das Sommerfest von den „Freunden des Botanischen Gartens“, die das ganze Jahr über in den Gewächshäusern und im Freigelände tatkräftige Unterstützung leisten.
Besonders große Resonanz fand dieses Jahr die Führung der Ulmer Apothekerin Dr. Petra Schäfer durch den Apothekergarten. Die Expertin für Heilpflanzen demonstrierte fachkundig, gegen welche Beschwerden dort ein wirksames Kraut gewachsen ist und wogegen nicht. Von der Brennnessel über Weißdorn und Schafgarbe, Melisse und Fingerhut bis hin zu Johanniskraut, Knoblauch und Ringelblume. Unter dem dazu passenden Motto „Grüne Apotheke – vom Hortus Medicus zur Pharmaforschung“ stand übrigens die Sonderausstellung, die anlässlich der Woche der Botanischen Gärten im Verwaltungsgebäude eröffnet worden war und noch bis Ende September zu sehen ist. „Den Menschen in der Region wird immer bewusster, welchen grünen Schatz sie hier an der Uni haben. Und das ist gut so“, freut sich Rudi Lemm, Vorsitzender des Vereins der „Freunde des Botanischen Gartens“.
Text: Andrea Weber-Tuckermann
Fotos: Elvira Eberhardt, Graciela Hintze und Andrea Weber-Tuckermann