Die Höhen und Tiefen der Einsamkeit
Auf der Walz, im Kloster und Gefängnis
Ein Rosenkranz, ein Buddhakopf und ein Wanderstock liegen auf dem Podium des Ulmer Stadthauses. Für ihre Besitzer symbolisieren diese Gegenstände die „Höhen und Tiefen der Einsamkeit“. Am zweiten Veranstaltungstag der Ulmer Denkanstöße berichteten so unterschiedliche Persönlichkeiten wie der Ex-Mönch Placidus Heider und der ehemalige Topmanager Dr. Thomas Middelhoff von ihren Erfahrungen mit dem Alleinsein mit sich selbst.
Mit seiner traditionellen Kluft fiel der Zimmermeister Welf Kaufmann im Stadthaus auf. 1994 hatte sich der Handwerker in die selbst gewählte Einsamkeit begeben, auf die Walz: In dieser Zeit durfte er sich weder seinem Heimatort nähern, noch mehr als drei Monate an einem Ort verweilen. „In meiner Umgebung bin ich größtenteils auf Unverständnis gestoßen: Meine Freunde kannten die Walz nur aus dem Märchen oder aus dem Fernsehen und mein Bruder war überzeugt, dass ich nach spätestens sechs Wochen aufgeben würde.“ Doch der junge Handwerker hielt volle zwei Jahre durch und schrieb sogar eine „Bedienungsanleitung“ für die Walz. Auf der Wanderschaft, die ihn zunächst durch das wiedervereinigte Deutschland und Europa bis in den Nahen Osten führte, traf Kaufmann auf große Hilfsbereitschaft. Er war aber auch oft auf sich alleine gestellt und fühlte sich „einsam unter vielen“. Rückblickend möchte Kaufmann, der heute einen Betrieb bei Hannover leitet und als Dozent arbeitet, seine Wanderjahre nicht missen. Er hält seine Erinnerungsstücke, das „Bündel“ und den Wanderstock „Stenz“, in Ehren und wünschte dem Publikum eine „fixe Tippelei“.
Selbstgewählt war auch die Einsamkeit des ehemaligen Benediktinermönchs Dr. Dr. Placidus Heider, der dem Klosterleben nach vielen Jahren entsagte. Als besonders prägend hat Haider sein erstes Weihnachtsfest im Kloster Metten im Gedächtnis: „Vor uns standen Teelichter und Schoko-Weihnachtsmänner von Aldi. Dann hielt der Abt eine Ansprache, was im letzten Jahr alles schief gelaufen war.“ Der junge Mann merkte schnell: Die Realität hat mit der romantischen Vorstellung vom beschaulichen Klosterleben in guter Gemeinschaft wenig zu tun. Vielmehr fühlte er sich wie auf dem „Dauerexerzierplatz“. Also arbeitete der promovierte Theologe und Philosoph als Bibliothekar – was ihm den Luxus eines Telefonanschlusses einbrachte – sowie als Gymnasiallehrer. Doch eines Tages kehrte er dem Klosterleben, mit lediglich einer Bücherkiste unter dem Arm, den Rücken. „Die Einsamkeit ist mir allerdings nachgelaufen“, so Heider. Er habe sich von ehemaligen Wegbegleitern wie Lehrerkollegen völlig unverstanden gefühlt. Doch das Alleinsein mit sich selbst habe ihn auch zu dem gemacht, der er jetzt sei. Heute arbeitet Placidus Heider als Seelsorger, Maler und Dozent. Symbol seiner Einsamkeit sind leere Hände.
Die Zellen mögen sich in Größe und Ausstattung ähneln, doch im Gegensatz zum Klosterleben waren die Gefängnisaufenthalte der weiteren Referenten alles andere als freiwillig. Dr. Vinzenz Mannsmann war Klinikleiter, Arzt und Meditationslehrer, als er aufgrund fehlerhafter Abrechnungen zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. „Ich hatte in meiner Klinik jeden Tag 100 Leute um mich, als ich zu meiner Reise in die Einsamkeit, ins Gefängnis, abgeholt wurde“, erinnerte sich Mannsmann. In seiner Zelle fühlte sich der siebenfache Familienvater abgeschnitten von jeglicher Kommunikation: Jeder Brief an die Familie ging zunächst zur Prüfung an die Staatsanwaltschaft. Bis zur Antwort, die natürlich ebenfalls kontrolliert wurde, vergingen durchschnittlich 21 Tage. „In dieser Zeit wusste ich nicht, wie es der Familie geht, und ob die Klinik bereits insolvent ist.“ Die langen Tage im Gefängnis verbrachte der überzeugte Buddhist mit Meditation. Er malte kleine Aquarelle und entdeckte das Schreiben für sich. Bei den Denkanstößen gab Mannsmann Einblicke in seine Zeit im Gefängnis und als Freigänger in Ulm. Seine Einsamkeit symbolisiert ein Buddhakopf, den er in Haft töpfern durfte.
Von der Vorstandsetage in die Gefängniszelle zog Dr. Thomas Middelhoff: 2014 wurde der einstige Topmanager zu drei Jahren Haft verurteilt. „Die größte Einsamkeit habe ich verspürt, als ich meinen dunkelblauen Anzug in der Kleiderkammer des Gerichts ablegen musste und in Unterhose vor der Kachelwand stand.“ Doch bereits als Vorstandsvorsitzender von Konzernen wie Bertelsmann oder Arcandor hatte Middelhoff Erfahrungen mit dem Alleinsein gemacht. „Als Manager saß ich im Elfenbeinturm und war völlig lebensfremd. Ich wusste weder, was ein Pfund Butter kostet, noch, dass einige nicht von ihrer Rente leben können. Macht das glücklich? Nein, eher einsam.“ Als seinen größten Fehler bezeichnete Middelhoff den eigenen Hochmut, der ihn zu folgeschweren Entscheidungen verleitet habe. Im Gefängnis hat er nach eigenen Angaben alles verloren – inklusive seiner Gesundheit. Auf die Frage, was ihn über diese Zeit gerettet habe, nennt der fünffache Vater das frühmorgendliche Studium der Bibel und das Gebet – Symbol hierfür ist der Rosenkranz. Schließlich durfte Middelhoff als Freigänger in den Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel mit Behinderten arbeiten und bemerkte: „Sollte ich im Gefängnis resozialisiert worden sein, verdanke ich dies Gott und Bethel.
Text und Fotos: Annika Bingmann
Auf dem Gipfel der Einsamkeit - Extremkletterer Alexander Huber
Den Abendvortrag der Ulmer Denkanstöße hielt Extrembergsteiger Alexander Huber, der jüngere der Huberbuam. Der Sportler und studierte Physiker entführte sein Publikum in die höchsten Höhen der selbst gewählten Einsamkeit. Denn obwohl Huber eine Seilschaft mit seinem Bruder Thomas bildet, hat er viele anspruchsvolle Gipfel alleine als Freikletterer erklommen – wie beispielsweise einen beeindruckenden Felsturm in den Dolomiten. Seinen Vortrag startete Huber mit einem geschichtlichen Abriss über den Alpinismus und zeigte atemberaubende Aufnahmen seiner Abenteuer – von einer winterlichen Besteigung des Matterhorns bis zu einer Ski- und Bergtour in Ostgrönland mit Musiker Hubert von Goisern. Auf den Gipfeln der Welt habe er vor allem inspirierende Einsamkeit erfahren, so der staatlich geprüfte Ski-und Bergführer. Seinem Publikum gibt Alexander Huber mit: „Riskante Situationen an sich sind nicht gefährlich.“ Vielmehr seien mangelnde Vorbereitung und Kompetenz eine Gefahr.
Einsamkeit in den Bergen
Text: Annika Bingmann
Foto: Archiv Huberbuam
Video: Daniela Stang
Vom mitunter tödlichen Schmerz der Einsamkeit - Heimspiel für den Ulmer Psychiatrieprofessor Manfred Spitzer
Der Abschlussvortrag der 12. Ulmer Denkanstöße war für den Ulmer Psychiater Professor Manfred Spitzer so etwas wie ein Heimspiel. Der Ärztliche Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III Ulm gehört sicherlich zu den bekanntesten Wissenschaftlern der Universität Ulm. Seine Bücher sind Besteller, die sehr kontrovers diskutiert werden. Der Digitalisierungskritiker hat viele Gegner, doch seine Anhänger sind im Ulmer Stadthaus in der Überzahl. Für seinen lebhaften, reichhaltigen und verständlichen Vortrag erhielt er dort großen Applaus
So erfuhr das Publikum an diesem Samstagabend, wie Recht der Volksmund hat, wenn er vom Einsamkeits- und vom Abschiedsschmerz spricht. Aus der modernen Hirnforschung wisse man, wie Manfred Spitzer darlegt, dass sich Gefühle der Einsamkeit oder des sozialen Ausschlusses mit modernen Bildgebungsgerätschaften als Schmerzempfindungen im Gehirn nachweisen lassen. Außerdem zeigten weitere wissenschaftliche Studien, dass Schmerzmittel wie Paracetamol diesen Einsamkeitsschmerz messbar reduzierten. Das erkläre nach Einschätzung des Ulmer Psychiaters auch den Schmerzmittelmissbrauch vieler älterer Menschen.
Einsamkeit ist für Manfred Spitzer ein Phänomen der Moderne. Zweierlei Gründe macht er dafür hauptsächlich verantwortlich: einerseits die weltweit zunehmende Verstädterung von Gesellschaften sowie andererseits die Digitalisierung und die damit verbundene Nutzung „sogenannter Sozialer Medien“. Digitale soziale Netzwerke wie Facebook beispielsweise leben davon, dass die Nutzer ihren Alltag perfekt inszenieren. „Dies schürt Neid, und die Menschen werden unglücklich mit ihrem eigenen Leben“, glaubt der Wissenschaftler, der den Begriff der „digitalen Demenz“ geprägt hat. Spitzer sieht hier einen Zusammenhang mit der alarmierenden Zunahme an Selbstmorden, beispielsweise bei jungen Erwachsenen in den USA. Studien zeigten zudem, dass mit der Zunahme der Bildschirmzeit in der Jugend die Empathiefähigkeit sinkt. „Eine Gesellschaft ohne Empathie macht einsam“, glaubt der Ulmer Psychiater. Außerdem fehlten heutzutage immer mehr die kleinen Interaktionen – wie Gespräche beim Bäcker oder am Gartenzaun. Diese seien jedoch der Schmierstoff der Gesellschaft, weil sie Gemeinschaft herstellten. Dafür nähmen Ich-Bezogenheit und materielles Denken zu.
Bei seinem rednerischen Ritt durch die medizinische Forschung ging es auch um die klinischen Folgen von Einsamkeit. In der westlichen Welt sei sie Todesursache Nummer eins. Die Ursache: die dauerhafte Ausschüttung von Stresshormonen wie Cortisol. Dies fördere Diabetes und Bluthochdruck und begünstige damit Herzinfarkte und Schlaganfälle. Dazu komme laut Spitzer das erhöhte Krebsrisiko. Und wie lässt sich hier gegensteuern? Manfred Spitzer empfiehlt eine „Impfung“ gegen Einsamkeit in jungen Jahren. „Wir müssen unseren Kindern Angebote machen, die in Gemeinschaft mehr Spaß machen!“, so der Redner. Dazu gehörten Musik, Sport oder Theater. Später im Leben helfe es auch, nach draußen zu gehen. Gerade das Naturerleben lindere nicht nur die Einsamkeit spürbar: „Es fördert auch den Sinn für Gemeinschaft und stärkt damit die Gesellschaft!“ Wer könnte und wollte da widersprechen?
Text und Fotos: Andrea Weber-Tuckermann
Lesen Sie mehr über den Eröffnungsvortrag der Ulmer Denkanstöße 2019: