Recht und Gerechtigkeit
Denkanstöße beschäftigen sich mit Politik, zivilem Ungehorsam und Superreichen
Hochkarätige Vorträge, Dialog mit der Stadtgesellschaft, einen Poetry Slam und noch vieles mehr: Das boten die Ulmer Denkanstöße in ihrer 18. Auflage. Drei Tage lang drehte sich im Stadthaus alles um das Thema »Recht und Gerechtigkeit«. Wie verhindert das Recht das Abgleiten in totalitäre Strukturen? Welche Rolle spielt es im Uni-Alltag? Und wie wirkt sich die Ungleichheit von Arm und Reich auf die Gesellschaft aus?
Immer wieder erregen Gerichtsurteile Aufsehen: Mal erscheinen sie zu mild, dann wieder viel zu hart. Was hat Recht mit Gerechtigkeit zu tun? Schafft Recht Gerechtigkeit? Und ist das überhaupt ein Ziel unseres Rechtssystems? Mit diesen und vielen weiteren Facetten des Themas »Recht und Gerechtigkeit« beschäftigten sich die Ulmer Denkanstöße 2025 Mitte März. Die Veranstaltungen waren bestens besucht – und die Strategie der Verantwortlichen, auch ein jüngeres Publikum für die Denkanstöße zu begeistern, ging auf. Vor allem beim Poetry Slam rannten die jungen Menschen die Stadthaus-Türen ein. Das mehrtägige Programm wird organisiert vom Department für Geisteswissenschaften der Universität Ulm, der Kulturabteilung der Stadt Ulm und der Stiftung Bildung und Soziales der Sparda-Bank Baden-Württemberg.
»Recht wird in einer Demokratie grundsätzlich als änderbar und manchmal auch änderungsbedürftig angesehen«, befand Professorin Rebekka Hufendiek, Leiterin des Departments für Geisteswissenschaften, am Eröffnungsabend. Dieser startete mit einem Gespräch zwischen dem Ulmer Oberbürgermeister Martin Ansbacher, Universitätspräsident Professor Michael Weber und Martin Buch, Vorstandsvorsitzender der SpardaBank Baden-Württemberg. Das diesjährige Thema traf ganz offensichtlich einen Nerv: Ende Januar hatte im Bundestag ein CDU-Antrag für Zurückweisungen von Asylsuchenden an den deutschen Grenzen mithilfe der AfD eine Mehrheit bekommen – ein bis dahin beispielloser Vorgang. In ganz Deutschland gingen Bürgerinnen und Bürger auf die Straße, auch in Ulm protestierten 10 000 Menschen.
Über die große Demonstration gegen Rechtsextremismus auf dem Münsterplatz zeigte sich Martin Ansbacher dankbar: »Das war toll.« Der Ulmer OB kennt sich mit dem deutschen Recht besonders gut aus. Denn der Jurist war bis zu seiner Wahl als Anwalt tätig und ist »ein großer Fan unseres Grundgesetzes«. Dieses müssten wir jeden Tag verteidigen, denn: »Jeder, der unser Grundgesetz angreift, greift unsere Demokratie an. Wir haben das Recht zum Widerstand.«
Auch im Uni-Alltag ist die Frage nach Recht und Gerechtigkeit relevant: Die Vorgänge in den USA, wo die Regierung unliebsamen Universitäten Mittel streicht, sieht Uni-Präsident Michael Weber mit großer Sorge: »Das ist ein massiver Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit, die bei uns ja im Grundgesetz verankert ist. Wir müssen aufpassen, dass das nicht auch in Deutschland und Europa passiert – denn es gibt Parteien, die die Wissenschaftsfreiheit infrage stellen.« Das Recht müsse die Wissenschaftsfreiheit unbedingt schützen.
Jeder, der unser Grundgesetz angreift, greift unsere Demokratie an
Wenn es um Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und soziale Chancen geht, spielt die Finanzwelt eine entscheidende Rolle, findet Martin Buch: »Es ist wichtig, sich mit Finanzthemen zu beschäftigen und vorzusorgen. Ich muss wissen, was mir zusteht.« Diese Bildungsthemen würden bewusst durch die Stiftung Bildung und Soziales aufgenommen. Auch Martin Ansbacher versteht »Gerechtigkeit immer als soziale Gerechtigkeit«, die die Durchlässigkeit einer Gesellschaft ermöglicht. »Wir setzen in Ulm schon immer auf Bildung, Bildung, Bildung. Es geht nicht darum, woher man kommt, sondern darum, welche Möglichkeiten man hat.«
Den Eröffnungsvortrag hielt Professor Christoph Möllers. Der Berliner Rechtswissenschaftler fragte: »Kann uns das Recht vor der Politik bewahren?« Möllers widmete sich dem komplexen Verhältnis von Recht und Politik und den Freiheiten und Pflichten, die die Mehrheitsregel mit sich bringt.
Tag zwei der Denkanstöße stand ganz im Zeichen der Interaktion: Dr. Samira Akbarian von der Frankfurter Goethe-Universität diskutierte mit Studierenden und Publikum über zivilen Ungehorsam, und das Theater Ulüm begleitete eine interaktive Session mit der Neu-Ulmer Journalistin Mesale Tolu mit einer szenischen Darstellung.
Am Abend ging es dann vor vollem Saal in den lyrischen Wettstreit: Vier bekannte Gesichter aus der deutschen Poetry Slam-Szene hatten sich mit »Recht und Gerechtigkeit« auseinandergesetzt: In kurzen Sessions battelten sich Friedrich Herrmann, Meral Ziegler, Jule Weber und Aidin Halami. Über das Weiterkommen entschieden Vertreterinnen und Vertreter aus dem Publikum. Im Finale standen der Berliner Deutschlehrer Aidin Halimi, der als Jugendlicher aus dem Iran nach Deutschland emigriert war, und die Bochumerin Jule Weber, die sich mit dem utopischen Ausgang einer Demo für Frauenrechte beschäftigte. Halimi gewann mit seinem Text »Ich brauch’ nicht Artikel«, in dem es um die grammatikalischen Fallstricke der deutschen Sprache geht. Als Pokal erhielt er eine von einer Neu-Ulmer Künstlerin eigens für die Ulmer Denkanstöße gestaltete Fliese.
Ebenfalls gut besucht waren die Samstagsvorträge. Die Journalistin und Autorin Julia Friedrichs unterhielt das Publikum bestens mit ihren Recherchen zu Superreichen und appellierte: »Wir müssen dringend zwischen Einkommen und Vermögen unterscheiden.« Friedrichs verdeutlichte: »Wenn wir über Reichtum reden, reden wir über eine sehr breite Spanne – vom Apotheker bis zum Milliardär.« Während man bei drei bis fünf Millionen Euro Vermögen schon entscheiden könne, ob man noch arbeiten oder von Zinsen leben möchte, spreche man erst bei rund 100 Millionen Euro Nettovermögen von Superreichen. Derer gibt es in Deutschland nach neuesten Zahlen 3900, und sie besitzen 27 Prozent des gesamten Finanzvermögens – Immobilien nicht eingerechnet. In ihrem Vortrag hatte Friedrichs die Zahl der Superreichen noch mit 3300 beziffert, die 23 Prozent des Finanzvermögens besitzen. Ein sprunghafter Anstieg – und eine Ungleichheit, die sich auf die Gesellschaft auswirkt und laut der Journalistin in einer Demokratie gründlicher erforscht und verhandelt gehört, als es derzeit der Fall ist.
Es geht nicht darum, woher man kommt, sondern darum, welche Möglichkeiten man hat
»Vom NSU zur Remigration: Wo stehen wir?«, fragte Dr. Mehmet Daimagüler in seinem Abschlussvortrag. Eindringlich veranschaulichte der NSU-Opferanwalt, dass die rechtsextreme Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« kein Trio war, sondern ein großes Netzwerk ist, und kritisierte, dass über den Verfassungsschutz viel Geld in die rechtsextreme Szene geflossen ist. So hätten von den rund 160 Mitgliedern der militanten Neonazi-Gruppierung »Thüringer Heimatschutz« 42 Personen für den Verfassungsschutz gearbeitet. Daimagüler warnte: »Eine Demokratie sollte nicht die Feinde der Demokratie finanzieren.«
5000 Euro für den WEISSEN RING
Statt Eintritt zu verlangen, werden die Besucherinnen und Besucher um Spenden gebeten: Das ist seit jeher das Konzept der Ulmer Denkanstöße. Die bei den Veranstaltungen gesammelten Spenden, die auch in diesem Jahr von der Stiftung Bildung und Soziales der Sparda-Bank Baden-Württemberg verdoppelt und großzügig aufgerundet wurden, gingen 2025 an den WEISSEN RING. Der gemeinnützige Verein, der Kriminalitätsopfer unterstützt und sich für die Verhütung von Straftaten engagiert, konnte 5000 Euro in Empfang nehmen.
»Wir freuen uns sehr – es ist richtig was zusammengekommen«, so Cathrin Clausnitzer, Marktbereichsleiterin der Sparda-Bank Baden-Württemberg, die den Spendenscheck im Namen der Stiftung übergab. Entgegengenommen wurde die Spende von Sandra Gillmeister, Leiterin der Außenstelle Ulm/Alb-Donau-Kreis des Opferhilfevereins, und ihrem Stellvertreter Sebastian Gillmeister. Das Paar engagiert sich seit vielen Jahren ehrenamtlich für den WEISSEN RING.
»Wir sind überwältigt von so viel Zulauf. Bitte seien Sie sich sicher: Jeder Euro geht an die richtige Stelle – an die Opfer von Gewalttaten«, sagte Sandra Gillmeister im Stadthaus. »Wir versuchen immer, Institutionen zu finden, die zum Thema passen. Das tut der WEISSE RING als Opferschutzorganisation hervorragend«, so die Ulmer Bürgermeisterin für Kultur, Bildung und Soziales Iris Mann.

Text: Christine Liebhardt
Fotos: Samuel Tschaffon, Jascha Pansch