Einfühlsame Worte statt Beruhigungsspritze

Bei der Behandlung psychiatrischer Notfälle gibt es Geschlechtereffekte

Wo der Notarzt eher zur Spritze greift, setzt die Notärztin mehr auf eine empathische Patientenansprache. Eine Studie des Uniklinikums Ulm hat geschlechtsspezifische Unterschiede in der prähospitalen Versorgung psychiatrischer Notfälle gefunden. Demnach entscheiden sich Notärztinnen häufiger gegen invasive Maßnahmen wie das Spritzen von Beruhigungsmitteln. Um die Situation zu entschärfen, verzichten sie auch häufiger als ihre männlichen Kollegen auf die Messung von Vitalparametern.

Psychiatrische Notfälle stellen Notärztinnen und Notärzte häufig vor große Herausforderungen. Anders als bei Herzinfarkt, Schlaganfall oder Knochenbrüchen, für die es klar definierte präklinische Handlungsabläufe gibt, ist der individuelle Handlungsspielraum bei der Behandlung psychiatrischer Notfälle größer. »Solche Notfälle sind oft vielfältiger als somatische Krankheitsbilder und haben häufig einen unvorhersehbaren Verlauf. Manchmal kommt es sogar zu einer erheblichen Gefährdung des versorgenden Personals und der Betroffenen selbst«, erklärt Professor Carlos Schönfeldt-Lecuona. Der Mediziner war bis Ende 2024 stellvertretender Oberarzt an der Ulmer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III. Seitdem leitet er als Chefarzt die CuraMed Tagesklinik für Psychosomatische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie in Neu-Ulm. Schönfeldt-Lecuona ist Mitautor einer im Fachjournal BMC Emergency Medicine veröffentlichten Studie über Geschlechterunterschiede bei der notärztlichen Behandlung psychiatrischer Notfälle, an der auch die Ulmer Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin beteiligt war.

»Für die Untersuchung haben wir die notärztliche Intervention nach Geschlechtern analysiert«, sagt Assistenzärztin Celine Schwarzer, die im Rahmen ihrer Dissertation an der Datenerhebung beteiligt war und Mitautorin der Studie ist. Für die retrospektive Kohortenstudie hat die Ärztin die Behandlungsprotokolle systematisch nach Behandlungsschritten ausgewertet. Dazu zählen beispielsweise Maßnahmen zur Sicherung der Atmung und des Herzkreislaufs. Erfasst wurde auch das Monitoring von Puls, Blutdruck, Temperatur und Blutzucker sowie die Gabe von Medikamenten oder eines Antidots.

Bei der statistischen Auswertung zeigte sich, dass Notärzte in psychiatrischen Notfallsituationen mehr als doppelt so häufig intravenöse Hypnotika verabreicht hatten, als ihre weiblichen Kolleginnen. Gerade bei Angst- oder Panikstörungen gelang es den Notärztinnen signifikant häufiger als ihren männlichen Kollegen, auf weniger invasive Maßnahmen zurückzugreifen. Während die Notärzte also eher auf die beruhigende Wirkung einer Spritze setzten, vertrauten Notärztinnen mehr auf eine empathische Patientenansprache. Außerdem verzichteten die Frauen nach Abwägung der Vor- und Nachteile häufiger auf die Messung von Vitalparametern, um eine mögliche Eskalation zu verhindern. Denn selbst »harmlose« medizinische Handlungen wie Blutdruck- und Pulsmessen werden von psychiatrischen Patienten und Patientinnen manchmal als übergriffig empfunden.

Dr. Benedikt Schick (links) und Prof. Carlos Schönfeldt-Lecuona
Dr. Benedikt Schick (links) und Prof. Carlos Schönfeldt-Lecuona

Bei der Häufigkeit der Einweisung ins Krankenhaus gegen den Willen der Patientinnen und Patienten gab es hingegen keine Geschlechterunterschiede. Allerdings griffen die männlichen Notärzte auch dabei häufiger zur Spritze und verabreichten ein Hypnotikum. »Solche massiven medizinischen Maßnahmen erleben die Betroffenen als gravierenden Eingriff in die Integrität ihrer Person«, erläutert Dr. Benedikt Schick. Der Oberarzt an der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin ist Erstautor der Studie. Derartige Maximalinterventionen waren bei den Notärztinnen seltener. Der entscheidende Faktor scheint dabei aber nicht das Geschlecht an sich, sondern die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Kommunikation zu sein. »Das Ergebnis der Ulmer Untersuchung stützt bereits bekannte Befunde, dass Ärztinnen im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen einen empathischeren Kommunikationsstil pflegen. Es scheint ihnen durch aktives Zuhören und positiven Zuspruch besser zu gelingen, eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung auf Augenhöhe aufzubauen und seltener eine Interventionseskalation zu riskieren«, meint Professor Schönfeldt-Lecuona.

Zahlen zur Studie

Für die Untersuchung sind insgesamt 2882 Protokolle von Notarzteinsätzen mit psychiatrischer Indikation analysiert worden. Einbezogen waren Fälle der drei Ulmer Notarztstandorte Eselsberg, Michelsberg und Safranberg von 2015 bis 2021. Auslöser für die Notfalleinsätze waren laut Dokumentation die Intoxikation mit Alkohol oder anderen Drogen (47 %), suizidales Verhalten (17 %), psychische Ausnahmesituationen (10 %), motorische Hyperaktivität (9 %), Angst- oder Panikstörungen (9 %) und sowie »sonstige psychiatrische Erkrankungen« (8 %).

Publikationshinweis:
Benedikt Schick, Benjamin Mayer, Bettina Jungwirth, Eberhard Barth, Claus-Martin Muth, Christine Eimer, Celine Schwarzer and Carlos Schönfeldt-Lecuona: Does the gender of emergency physicians have an impact on the prehospital care of psychiatric emergencies? A retrospective cohort analysis. In: BMC Emergency Medicine (2024) 24:201
https://doi.org/10.1186/s12873-024-01118-3

Text: Andrea Weber-Tuckermann
Fotos: istockphoto/Povozniuk, Uniklinikum Ulm