Die
Epidemiologie
des neuen
Coronavirus

Ulmer Wissenschaftler als Experte gefragt

Eigentlich erforscht Professor Dietrich Rothenbacher vor allem die Epidemiologie von Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen. Seit Beginn der Coronavirus-Pandemie ist der stellvertretende Präsident der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie (DGEpi) zudem ein gefragter Ansprechpartner für Journalisten und wissenschaftlich Interessierte: Alleine die von ihm mitverfasste erste Stellungnahme der Fachgesellschaft zur Verbreitung des Coronavirus verzeichnete im Internet mehr als 12 000 Zugriffe.

Mit den Teilbereichen der Epidemiologie, den Ursachen, der Verbreitung und den Folgen von Krankheiten, kennt sich der Ulmer Professor Dietrich Rothenbacher bestens aus. Trotzdem machte er sich zunächst keine allzu großen Sorgen, als um den Jahreswechsel über ein neuartiges Coronavirus in der chinesischen Metropole Wuhan berichtet wurde. „Das neue Virus ist mit dem SARS-Erreger verwandt, der ebenfalls aus China stammt. Da SARS in den Jahren 2002 und 2003 zu lediglich 8000 laborbestätigten Fällen geführt hat, war mit einer Coronavirus-Pandemie wie wir sie jetzt erleben, zunächst nicht zu rechnen“, erinnert sich Rothenbacher. Doch bald wurde klar, dass das neue Coronavirus (SARS-CoV-2) ganz anders als sein „Verwandter“ zu beurteilen ist: Gefährlich ist die hohe Infektiosität bereits vor dem Auftreten erster Symptome sowie das breite Krankheitsspektrum – von nahezu symptomfreien aber ansteckenden Verläufen bis hin zu schweren Atemwegserkrankungen mit tödlichem Ausgang. „Diese Faktoren machen eine Kontrolle der Virusausbreitung extrem schwierig“, erklärt der Leiter des Instituts für Epidemiologie und Medizinische Biometrie. Die Verbreitung des Erregers verläuft rasant: Und auch wenn nur zwei Prozent der Infizierten schwer erkranken, käme es bei einem unkontrollierten Ausbruch schnell zu katastrophalen Zuständen in den Krankenhäusern. Dass Engpässe in der intensivmedizinischen Versorgung hierzulande bisher ausgeblieben sind, erklärt Rothenbacher auch mit der guten gesundheitlichen Versorgung. Vor allem aber sei das „Verbreitungsmanagement“ bisher sehr erfolgreich gewesen.

Zur Person Prof. Dietrich Rothenbacher

Prof. Dietrich Rothenbacher, Leiter des Instituts für Epidemiologie und Medizinische Biometrie

Prof. Dietrich Rothenbacher hat an der Universität Ulm Medizin studiert und zusätzlich ein Masterstudium „Epidemiology“ an der University of North Carolina in Chapel Hill (USA) abgeschlossen. Weiterhin erlangte Rothenbacher die Anerkennung als Facharzt für Arbeitsmedizin und er wirkte als Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Aufbau des Instituts für Epidemiologie der Universität Ulm mit. Weitere Stationen absolvierte der Epidemiologe in Heidelberg (Deutsches Zentrum für Alternsforschung, Deutsches Krebsforschungszentrum) sowie in Basel, wo er in der Pharmaindustrie arbeitete.

2010 übernahm Dietrich Rothenbacher die Leitung des Instituts für Epidemiologie und Medizinische Biometrie der Universität Ulm. Seine Schwerpunkte liegen auf der Epidemiologie chronischer Erkrankungen wie Herz-Kreislauf- oder Stoffwechselerkrankungen. Weiterhin beschäftigt sich der Mediziner mit der klinischen Epidemiologie und der Biomarkerforschung. Derzeit ist Rothenbacher unter anderem Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie (DGEpi), deren Geschäftsstelle seit zwei Jahren an der Universität Ulm angesiedelt ist.

Professor Rothenbacher betont, dass Alter und Vorerkrankungen den Verlauf einer Coronavirus- Infektion (Covid-19) bestimmen. „Aber Covid-19 ist nicht nur eine Krankheit der Älteren – auch jüngere Erwachsene haben schwere Verläufe.“ Besonders oft wird der Epidemiologe nach Ursachen für die so unterschiedliche Sterblichkeit von Covid-19-Patienten in Deutschland und in Ländern wie Italien gefragt. Zwar könne man sagen, dass Infizierte in Italien im Schnitt ein höheres Lebensalter als in Deutschland hätten, insgesamt seien Infektions- und Todeszahlen jedoch nur schwer vergleichbar. Zum einen teste jedes Land in unterschiedlichem Ausmaß und zum anderen werde nicht ermittelt, ob jemand mit oder am neuen Coronavirus sterbe. „Um die tatsächliche ,Tödlichkeit‘ von SARS-CoV-2 zu bestimmen, müsste die Anzahl der Infizierten in der Population bekannt sein. Erst dann können wir die Sterblichkeit durch Covid-19 statistisch schätzen“, so Rothenbacher.

Mit der Zulassung eines wirksamen Impfstoffs, der dann auch in ausreichenden Mengen zur Verfügung steht, rechnet der Epidemiologe so schnell nicht („eine Impfung für jeden in 2021 halte ich für optimistisch“). Bis dahin müssen wir lernen, mit dem Virus zu leben und uns wie andere so gut es geht durch Kontaktbeschränkungen, allgemeine Hygienemaßnahmen und Alltagsmasken zu schützen. „Wir wissen momentan nicht genau, was die einzelnen Maßnahmen zur Verhinderung der Weiterverbreitung von SARS-CoV-2 beitragen. Nach der Rücknahme einzelner Regeln wird bald zu sehen sein, wie sich die Neuinfiziertenzahlen entwickeln – allerdings schlägt sich der Effekt erst zwei bis drei Wochen später in der Statistik nieder“, erklärt der Mediziner. Die unterschiedliche regionale Betroffenheit könne bei künftigen Lockerungen eine Rolle spielen – wobei Menschenansammlungen wie in Stadien und Bierzelten nach wie vor die größten Risiken bergen. Rothenbacher ärgert sich über Stimmen, die die Corona-Maßnahmen mit Verweis auf leere Krankenhausbetten als übertrieben bezeichnen. „Wir nennen dies das Präventionsparadox – die Betten sind leer, weil wir vorausschauend gehandelt haben.“

Das neue Virus wird uns also wohl noch eine Weile beschäftigen. In Zukunft befürchtet Dietrich Rothenbacher schlimme Bilder aus afrikanischen und einigen südamerikanischen Ländern, die erheblich weniger Ressourcen für die Pandemie- Bekämpfung haben als Deutschland. „Wir können schon jetzt aus der Corona-Krise lernen, dass Pandemien möglichst globale Lösungsstrategien erfordern“, resümiert der Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie.

Über Coronaviren

Die Familie der Coronaviren umfasst zahlreiche Erreger, die Menschen und Tiere infizieren können. Etliche Coronaviren verursachen gewöhnliche Erkältungen oder Durchfälle. Der Name der „Virenfamilie“ geht auf Fortsätze an der Virushülle zurück, die unter dem Elektronenmikroskop wie eine Krone aussehen.

In den Jahren 2002 und 2003 löste ein Coronavirus die SARS-Pandemie aus (Severe Acute Respiratory Syndrome). An dieser Lungenkrankheit starben weltweit einige hundert Menschen.

2012 fielen dann im Mittleren und Nahen Osten Patienten mit schweren Atemwegserkrankungen auf, bei denen ebenfalls eine Coronavirus-Infektion namens MERS (Middle East Respiratory Syndrome) festgestellt wurde. Rund acht Jahre später ist in China ein neues Coronavirus identifiziert worden, das aufgrund seiner Verwandtschaft zum SARS-Erreger den Namen SARS-CoV-2 erhielt (Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavirus-2). Dieses Virus verursacht ganz unterschiedliche Krankheitsverläufe – von praktisch symptomfrei bis zur tödlichen Lungenentzündung. Die Weltgesundheitsorganisation WHO nannte die Krank- heit, die mittlerweile auch mit neurologischen Komplikationen und Gefäßentzündungen assoziiert wird, Covid-19 (Coronavirus Disease 2019). Ende Mai wurden bereits rund 350 000 Todesfälle weltweit in Verbindung mit Covid-19 gebracht.

Texte: Annika Bingmann

Fotos: Pixabay, Uniklinikum Ulm, Hans R. Gelderblom, Freya Kaulbars