Plötzlich Coronaforscher!

Ein Jahr im Labor mit SARS-CoV-2

Anfang 2020 hätten die Ulmer Virologie-Professoren Frank Kirchhoff und Jan Münch wohl kaum geglaubt, dass ein neuartiges Coronavirus schon bald ihren Arbeitsalltag auf den Kopf stellen würde. Denn eigentlich sind die Wissenschaftler HIV-Experten. Doch ebenso schnell, wie sich SARS-CoV-2 in aller Welt verbreitete, sind am Institut für Molekulare Virologie Forschungsprojekte zum neuen Erreger gestartet. Inzwischen laufen vielversprechende Tests zu antiviralen Substanzen. Zudem konnten die Forschenden zeigen, wie das neue Coronavirus den Magen-Darmtrakt und die Bauchspeicheldrüse befällt.

Portrait der Virologen Münch und Kirchhoff
Prof. Frank Kirchhoff (links) und Prof. Jan Münch, Virologen an der Uni Ulm
»In unserer grundlegenden wissenschaftlichen Arbeit geht es insbesondere um körpereigene Verteidigungsmechanismen, die im Laufe der Evolution entstanden sind, und die gegen ein breites Spektrum an Erregern wirken – auch gegen das neue Coronavirus«

Eigentlich haben sich der Leibniz-Preisträger Professor Frank Kirchhoff und sein Kollege Professor Jan Münch als HIV-Forscher einen Namen gemacht. Seit über einem Jahr bestimmt jedoch das neue Coronavirus (SARS-CoV-2) die Forschung der Direktoren des Instituts für Molekulare Virologie. Kurz vor dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 war Jan Münch unter den ersten Wissenschaftlern landesweit, die eine Forschungsförderung zu SARS-CoV-2 eingeworben hatten. »Bei einer Konferenz in Barcelona im Februar vergangenen Jahres hat mir eine schwedische Kollegin ein gemeinsames Projekt zu antiviralen Wirkstoffen gegen das neue Coronavirus vorgeschlagen. Noch im Hotelzimmer habe ich am Antrag für das Forschungsvorhaben Fight-nCoV geschrieben«, erinnert sich Münch.

Etwa zur gleichen Zeit begann sein Kollege Frank Kirchhoff im Ulmer Institut Kapazitäten für die Coronavirus-Forschung zu schaffen. Der renommierte Virologe blickt auf eine mehr als 30-jährige Forscherkarriere zurück. Doch auch er konnte den neuen Erreger, der zunächst im chinesischen Wuhan aufgefallen war, nur schwer einschätzen. »Die Spannbreite in der Familie der Coronaviren ist groß und reicht von Erkältungserregern bis zu lebensbedrohlichen MERS- und SARS-Viren. Da eine MERS-Infektion in bis zu 40 Prozent der Fälle tödlich verläuft, haben die schwerkranken Patienten kaum Chancen, andere anzustecken. Es blieb bisher bei einigen Tausend Infektionen«, erklärt Kirchhoff. Ganz anders verhält es sich bei SARS-CoV-2: Da die Mehrheit der Infizierten nur milde oder gar keine Krankheitszeichen zeigt, kann der Erreger unbemerkt über Aerosole und Tröpfchen weitergeben werden. Außerdem besteht in der Bevölkerung keine Grundimmunität: Gerade Ältere sowie Menschen mit Vorerkrankungen sind dem Virus oft recht schutzlos ausgeliefert.

Beschriebene Eppendorf-Tubes
»Bisherige Laborergebnisse sind vielversprechend. Jetzt müssen wir die Wirksamkeit der antiviralen Substanzen auch gegen mutierte Viren testen«

 

Aufgrund des hohen Gefährdungspotenzials darf nicht überall mit SARS-CoV-2-Viren gearbeitet werden. Ein Labor der Schutzstufe 3 (S3), das diesen erhöhten Sicherheitsanforderungen entspricht, steht auf dem Campus bisher nur am Institut für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene zur Verfügung. »In diesem einen S3-Labor können sich allerdings nur zwei Mitarbeitende gleichzeitig aufhalten. Zu Beginn unserer Coronavirus-Forschung mussten wir also einen Schichtbetrieb organisieren – oftmals bis in die Nacht«, erläutert Kirchhoff. Mittlerweile sind gut die Hälfte aller Mitglieder des Instituts für Molekulare Virologie in die Forschung zu SARS-CoV-2 eingebunden. »Doktorandinnen und Doktoranden, die eigentlich über ein anderes Thema promovieren, opfern ihre Zeit und engagieren sich enorm, um ihren Teil zur Pandemiebekämpfung beizutragen«, ergänzt Jan Münch.

Von HIV für die Corona-Forschung lernen

Doch wie haben sich die Virologen, die bisher zu HIV, Herpes und anderen Erregern geforscht haben, von jetzt auf gleich auf SARS-CoV-2 eingestellt? »In unserer grundlegenden wissenschaftlichen Arbeit geht es insbesondere um körpereigene Verteidigungsmechanismen, die im Laufe der Evolution entstanden sind, und die gegen ein breites Spektrum an Erregern wirken – auch gegen das neue Coronavirus«, erläutert der HIV-Experte Kirchhoff. Darüber hinaus haben HIV und SARSCoV-2 etliche Gemeinsamkeiten: Beide sind RNA-Viren und verhalten sich beim Zelleintritt ganz ähnlich. Als so genannte Zoonosen sollen sowohl der AIDS-Erreger HIV als auch SARSCoV-2 vom Tier auf den Menschen übergesprungen sein. »Insgesamt konnten wir viel aus der HIV-Forschung für unsere jetzige Arbeit mit Coronaviren lernen«, stimmen die Institutsdirektoren überein.

In rund einem Jahr Coronavirus-Forschung haben sich am Institut vier große Linien herausgebildet. Im ältesten Projekt, Fight-nCoV, sucht ein internationales, von der Universität Stockholm geleitetes Konsortium um Professor Münch nach antiviralen Wirkstoffen gegen SARS-CoV-2. Drei solche Substanzen, die das Virus inaktivieren oder dessen Eintritt in die Zelle verhindern sollen, werden derzeit im Mausmodell untersucht. Darunter sind so genannte molekulare Pinzetten, die an die Virushülle binden und so den Erreger zerstören. »Bisherige Laborergebnisse sind vielversprechend. Jetzt müssen wir die Wirksamkeit der antiviralen Substanzen auch gegen mutierte Viren testen«, so Münch.

Hand hält Behälter mit rotem Inhalt

Zweitens suchen die Virologinnen und Virologen nach körpereigenen und somit nebenwirkungsarmen Hemmstoffen gegen SARS-CoV-2. Dieser Forschungsansatz steht im Zusammenhang mit dem Peptid-Sonderforschungsbereich 1279 des Instituts: Im menschlichen »Peptidom« identifizieren die Forschenden Eiweiße, die gegen Erreger wie SARS-CoV-2 wirksam sind und für therapeutische Anwendungen optimiert werden können. Außerdem fragen die Wissenschaftler: Welche zelleigenen Faktoren sind gegen das Coronavirus aktiv? Und wie verhindert SARS-CoV-2 eine Immunantwort? Diese und weitere Projekte rund um die Beeinflussung der körpereigenen Abwehrreaktion könnten dabei helfen, künftige Immuntherapien zu verbessern. Denn perfiderweise schaffen es Coronaviren häufig, die Immunantwort ihres Wirts wirksam zu unterdrücken, um sich besonders effektiv zu vermehren. Eine spätere, überschießende Immunreaktion der Erkrankten kann jedoch schwere Symptome verursachen und sogar tödlich enden. Zu Beginn der ersten Ansteckungswelle galt eine Coronavirus-Infektion (COVID-19) als Atemwegserkrankung mit Symptomen von Husten und Fieber bis zur Lungenentzündung.
Doch mittlerweile ist bekannt, dass SARS-CoV-2 weitere Organe sowie das Herz-Kreislauf- oder Nervensystem befallen kann – und dort eventuell dauerhafte Schäden anrichtet. Die zugrunde liegenden, molekularen Vorgänge, die während einer Infektion im Körper ablaufen, sind allerdings noch nicht vollständig verstanden. »Wir wissen, dass sich SARS-CoV-2 von den oberen Atemwegen bis in die Lunge ausbreitet. Von dort aus werden womöglich weitere Organe infiziert, was in einigen Fällen zu einer lebensbedrohlichen Sepsis führt«, erklärt Jan Münch. Gemeinsam mit Kollegen der Universitätsklinik für Innere Medizin I haben die Ulmer Virologen in ihrer vierten Forschungslinie gezeigt, wie sich das Coronavirus im Magen-Darmtrakt vermehrt oder die Bauchspeicheldrüse infiziert. Infolgedessen kann SARS-CoV-2 sogar Diabetes-ähnliche Symptome auslösen.

Virusvarianten im Visier

Über diese Forschungsprojekte hinaus bringt sich das Institut während der Pandemie in die Diagnostik ein: Anhand von Proben bereits immunisierter Mitarbeitender des Universitätsklinikums Ulm wurde überprüft, inwiefern Antikörper nach einer Impfung mit dem Biontech-Vakzin auch die neu auftretenden Virusvarianten neutralisieren. Da SARS-CoV-2 und insbesondere die britischen, südafrikanischen oder brasilianischen Varianten noch relativ neu sind, ist es nicht immer leicht, an Proben oder Reagenzien zu kommen. »Zu Beginn unserer Coronavirus-Forschung haben wir Erreger aus Patientenproben isoliert. Da es leider noch kein Repositorium für SARS-CoV-2 in Europa gibt, stellen uns teilweise Kollegen aus den USA Virusvarianten zur Verfügung«, berichten die Institutsdirektoren.

Ob die Professoren Kirchhoff und Münch auch nach Ende der Pandemie Coronaforscher bleiben, hängt von den Rahmenbedingungen ab – insbesondere von der Verfügbarkeit eines weiteren S3-Labors auf dem Campus. Zudem laufen viele Coronavirus-Projektförderungen Ende des Jahres aus. Doch schon jetzt sind sich die Wissenschaftler sicher: »Die nächste Pandemie kommt bestimmt.« Und dann ist es für die Virusexperten Ehrensache, die neuen Erreger zu erforschen.

Wissenschaftlerinnen am Arbeiten im Labor

Text: Annika Bingmann
Fotos: Robert-Koch-Institut, Elvira Eberhardt