Disintegration als Persönlichkeitsmerkmal - die Neigung zu psychose-artigen Erfahrungen und Verhaltensweisen
Das Konzept der Disintegration als Persönlichkeitsmerkmal geht davon aus, dass die Neigung zu psychose-artigen Erfahrungen und Verhaltensweisen (psychotic-like experiences and behavior, PLEB) eine grundlegende Dimension der „normalen“ Persönlichkeit darstellt. Diese Dimension ergänzt die etablierten Persönlichkeitsmodelle, die in der Regel fünf (z. B. das Fünf-Faktoren-Modell, FFM) oder sechs (z. B. das HEXACO-Modell) Merkmale höherer Ordnung umfassen. Es gibt umfangreiche Belege für die Existenz einer kontinuierlichen Verteilung subklinischer psychose-ähnlicher Erfahrungen in der Allgemeinbevölkerung, was darauf hindeutet, dass PLEBs auch in nicht-klinischen Populationen verbreitet sind.
Vor wenigen Jahren wurde Disintegration als eine breite Disposition vorgeschlagen, die für die Variationen in PLEB verantwortlich ist (Knežević et al., 2017). Diese Disposition wird als hierarchisches Konstrukt mit neun Facetten konzeptualisiert, die durch eine Reihe von Faktorenanalysen mit fast eintausend Indikatoren extrahiert wurden. Diese Facetten bilden einen eigenständigen Faktor höherer Ordnung, der sowohl von den FFM- als auch von den HEXACO-Persönlichkeitsfaktoren getrennt ist, wie sowohl in der Allgemeinbevölkerung als auch bei Personen mit Psychose beobachtet wurde (Ristić et al., 2023). Darüber hinaus wurde die Unabhängigkeit des Disintegration-Faktors vom FFM über verschiedene Informanten, Stichproben und Analyseeinheiten hinweg konsistent repliziert (Knežević et al., 2017), und auch die Unabhängigkeit des Disintegration-Faktors von den HEXACO-Faktoren wurde länderübergreifend nachgewiesen (Knežević et al., 2022).
Ein hoher Wert bei Messungen von Disintegration impliziert keine klinische Psychose. Erhöhte Werte deuten jedoch auf eine höhere Wahrscheinlichkeit hin, Verbindungen zwischen faktisch nicht zusammenhängenden Phänomenen wahrzunehmen, eine kognitive Verzerrung, die als Apophänie bekannt ist - die Tendenz, scheinbar bedeutsame Muster in Zufälligkeiten zu erkennen (Knežević et al., 2024).
In unserer Forschung zu Disintegration untersuchen wir die inkrementelle Erklärungskraft dieses basalen Persönlichkeitsfaktors in Bezug auf ein Spektrum von sozial bedeutsamen Kriterien wie z.B. Glaube an Verschwörungstheorien, politische Überzeugungen (rechtsgerichteten Autoritarismus, soziale Dominanzorientierung), Vorurteile, emotionales Weinen, imaginäres Denken (z.B. Glaube an Geist-Körper-Dualismus; Glaube an Karma oder eine Seele), Einsamkeit.
Referenzen
Knežević, G., Kušić, M., Lukić, P., Lazarević, L. B., & Keller, J. (2024). Can the “shotgun wedding” of Openness and Psychoticism be justified based on apophenia reflecting the disposition to commit false positive errors? Zeitschrift für Psychologie, 232(4).
Knežević, G., Lazarevic, L.B.., Bosnjak, M. & Keller, J. (2022). Proneness to psychotic-like experiences as a basic personality trait complementing the HEXACO model - A preregistered cross-national study. Personality and Mental Health, 16(3),244-262. https://doi.org/10.1002/pmh.1537
Barthelmäs, M., & Keller, J. (2021). Adult emotional crying: Relations to personality traits and subjective well-being. Personality and Individual Differences, 177, 110790. https://doi.org/10.1016/ j.paid.2021.110790
Knežević, G., Savić, D., Kutlešić, V., & Opačić, G. (2017). Disintegration: A reconceptualization of psychosis proneness as a personality trait separate from the big five. Journal of Research in Personality, 70, 187-201. http://dx.doi.org/10.1016/j.jrp.2017.06.001