Angewandte Ethik als Politikum. Konzeptuelles über Grundlagen und Status der Angewandten Ethik
In den letzten Jahrzehnten rücken Themen der Angewandten Ethik verstärkt in den Fokus öffentlichen Interesses, was nicht zuletzt die Gründung von Ethikkommissionen und Ethikräten beweist. Diese Aufmerksamkeit ist durchaus begrüßenswert, denn ein Thema der Angewandten Ethik ist immer auch ein Politikum, d.h. eine Auseinandersetzung um eine öffentliche Angelegenheit, die in bestehenden Macht- und Denkstrukturen stattfindet. Die Angewandte Ethik darf sich daher nicht darauf beschränken, bestimmte Handlungsoptionen direkt zu bewerten und zu normieren, sondern muss die Analyse und die Reflexion der gegebenen Bedingungen einschließen. Durch diese kritische Thematisierung der politischen, ökonomischen und kulturellen Verhältnisses avanciert die Angewandte Ethik zur Politischen Ethik. Was damit gemeint ist, soll im Folgenden umrissen werden.
- Systematische Ebene: Operationalisierung des Prüfverfahrens
- Hermeneutische Ebene: Handlungsverstehen und Situationsdeutung
- Weltanschauliche Ebene: Pluralismus und Demokratie
- Politisch-ökonomische Ebene: Handlungsdilemmata und Erhalt von Gestaltungsmöglichkeiten
- Rahmenbedingungen für Diskurse der Angewandten Ethik
- Zum Verhältnis von Moral und Verantwortung in der Angewandten Ethik
Welche Herausforderungen Fragen der Angewandten Ethik mit sich bringen, lässt sich verdeutlichen, indem vier Ebenen der Anwendungsproblematik unterschieden werden. Ausgehend von diesem Problemaufriss ist dann nach den Rahmenbedingungen für erfolgversprechende Diskurse zu Themen der Angewandten Ethik zu fragen und schließlich das Verhältnis von Moral und Verantwortung in diesen Diskursen zu bestimmen.
Systematische Ebene: Operationalisierung des Prüfverfahrens
Allgemeine Ethik (Moralphilosophie) als normative Disziplin begründet ein Moralprinzip oder Moralkriterien, mit deren Hilfe Handlungen oder Handlungsregeln beurteilt und gerechtfertigt werden. Die Frage nach der Anwendung müsste in einem solchen Kontext beantwortet werden, indem das Verfahren der Prüfung expliziert und erläutert wird. Um Anwendungsprobleme zu lösen, müsste versucht werden, das Prüfverfahren unter operationalen Gesichtspunkten zu entwickeln, damit es in einer Weise gehandhabt werden kann, die Fehler bei der Prüfung von Handlungen oder Handlungsregeln möglichst ausschließt. Nach diesem Verständnis der Anwendungsproblematik muss die Rede von einer Angewandten Ethik als tautologisch erscheinen: Eine jede Ethik ist auf Anwendung hin entworfen, weshalb ihr Gesamtkonzept ohnehin nur dann als vollständig gelten kann, wenn die entsprechenden Verfahren expliziert und möglichst weitgehend operationalisiert sind.
Hermeneutische Ebene: Handlungsverstehen und Situationsdeutung
Anwendung als Durchführung eines Prüfverfahrens setzt voraus, dass Klarheit über den Gegenstand der Prüfung besteht. Diese Voraussetzung ist aber nicht trivial: Der Gegenstand der Prüfung kann durchaus strittig sein. Ein klassisches Beispiel ist die Notlüge: Wie soll der Fall beschrieben werden? Geht es um die moralische Normierung entweder des Lügens, des Helfens oder des Lügens um zu helfen? Es könnte also sein, dass ein und dasselbe Kriterium und die jeweils korrekte Durchführung des Prüfverfahrens zu unterschiedlichen Bewertungen führen, je nachdem, wie der Gegenstand der Prüfung beschrieben wird. Anwendungsprobleme dieser Art betreffen also das Handlungsverstehen und die Deutung der Situation. Traditionell werden sie an die sogenannte Urteilskraft delegiert. Aber diese könnte angesichts der heutigen Komplexität der zur Beurteilung anstehenden Handlungsweisen überfordert sein. Das Handlungsverstehen und die Situationsdeutung sind ohne Expertenwissen nicht mehr zu leisten, weshalb die Durchführung der Prüfung zumeist auf interdisziplinäre Arbeitsgruppen angewiesen ist. Insofern haben Ethik-Kommissionen und Ethik-Räte auch ihre Berechtigung als methodisch fungierende Institutionen.
Weltanschauliche Ebene: Pluralismus und Demokratie
Die divergierenden Handlungs- und Situationsdeutungen hängen nicht nur vom Grad der Einsicht in die technologische, wissenschaftliche und wirtschaftliche Komplexität ab, sondern auch von Konzepten vom Menschen, von der Natur und von der Welt - zusammengefasst kann von Weltanschauungen gesprochen werden. Diese weltanschaulichen Einstellungen können moralische Handlungsbeurteilungen präjudizieren. So macht es einen großen Unterschied, ob die Vernutzung von Embryonen zu Forschungszwecken als Tötung von Menschen verstanden wird oder nicht, weil Embryonen nicht als Menschen angesehen werden. Die Wissenschaft kann diese Frage nicht entscheiden. Sie kann zwar einigermaßen sagen, welche Eigenschaften menschliches Leben in den verschiedenen Stadien seiner Entwicklung aufweist. Aber welches Stadium als hinreichend anzuerkennen ist, um von Menschen, die ein Anrecht auf moralischen Schutz haben, sprechen zu können, bleibt zunächst einmal abhängig von der weltanschaulichen Einstellung.
Nicht nur die Wissenschaft, auch die Moralphilosophie stößt hier an ihre Grenzen: Denn in einer wertepluralen Gesellschaft, die nicht zuletzt Religionsfreiheit verfassungsmäßig garantiert, kann nicht eine bestimmte Weltanschauung zur verbindlichen erklärt werden. Die Diskursethik kann zwar davon ausgehen, dass auch weltanschauliche Fragen im Diskurs zur Sprache kommen, aber nicht davon, dass der Zwang des besseren Arguments diese Fragen konsensfähig beantwortet: Weltanschauliche Einstellungen können zwar durch Argumente beeinflusst, aber nicht zwingend verändert werden, denn es hängt auch von eben diesen Einstellungen ab, was als besseres Argument gilt.
Die weltanschaulichen Anwendungsprobleme decken Voraussetzungen ›im Rücken‹ moralphilosophischer Konzeptionen, aber auch der wissenschaftlichen Disziplinen auf: Es wird deutlich, dass bereits in die Beschreibung der zu bewertenden Handlungsweise weltanschauliche Einstellungen eingehen und diese mitbestimmen. Diese Einstellungen werden um so bedeutsamer, je mehr die Komplexität der Technologien den Menschen, seine Natur und die Natur insgesamt zu Gegenständen der technischen Veränderung werden lässt. Letztlich muss daraus der Schluss gezogen werden, dass moralische Bewertungen und schließlich politische Entscheidungen sowie rechtliche Regelungen aus weltanschaulichen Gründen nicht von einem universellen Konsens getragen werden: Solange eine Pluralität der weltanschaulichen Einstellungen besteht, werden die Menschen zu divergierenden Beurteilungen gelangen. Weltanschaulicher Fundamentalismus ist eine der möglichen Folgen - und zwar bei allen Beteiligten.
Offensichtlich ist mit den weltanschaulichen Anwendungsproblemen bereits die Ebene des Politischen erreicht: Angewandte Ethik zeigt sich als eine Form des politischen Diskurses. In Weltanschauungsfragen muss dieser Diskurs versuchen, eine Schnittmenge normativer Verbindlichkeiten der verschiedenen Weltanschauungsgruppen zu gewinnen. Die Rede von Menschenrechten kann als ein Versuch in diese Richtung verstanden werden. Die Diskussion ist hier keineswegs abgeschlossen. Menschenrechte verdanken ihre Gültigkeit der Anerkennung durch Menschen, die ihre Vernunft praktisch gebrauchen, und nicht einem Objektivitäts- oder Wahrheitsbegriff empirischer Wissenschaft.
Politisch-ökonomische Ebene: Handlungsdilemmata und Erhalt von Gestaltungsmöglichkeiten
Dass das eigene moralische Handeln von anderen ausgenutzt werden kann, ist eine alltägliche Erfahrung. Konzeptuell interessant wird dieses Phänomen dann, wenn es nicht nur auf die Unmoral Einzelner zurückzuführen ist. Dazu gilt es einzusehen, dass sich bestimmte Dilemmasituationen mit vermeintlicher Notwendigkeit aus bestimmten gesellschaftlichen Lebensverhältnissen ergeben. Es sind insbesondere die ökonomischen Verhältnisse, welche Handlungsdilemmata reproduzieren: Wenn der wirtschaftliche Erfolg davon abhängt, welche Marktposition in einem Wettbewerb erkämpft wird, und wenn dieser Wettbewerb letztlich gar nicht anders denn als Nullsummenspiel gedacht werden kann, dann ist der Widerstreit zwischen konsequenter Moralität einerseits und wirtschaftlicher Selbstbehauptung andererseits programmiert. Nach dieser Logik scheint es unausweichlich, dass die moralischen Überzeugungen und entsprechenden rechtlichen Regelungen Schritt für Schritt auf dem Altar der ökonomischen Selbstbehauptung geopfert werden.
Aber andererseits wäre es auch unverantwortlich, wenn in der Welt, wie sie nun einmal ist, einzelne Akteure - sozusagen als moralische Helden - konsequent moralisch handeln würden. Wenn dies nämlich dazu führt, dass sie ökonomisch, salopp gesagt, auf der Strecken bleiben, dann sind damit nicht nur moralisch unerwünschte Konsequenzen für viele Menschen verbunden, sondern auch eine Einengung der Handlungsspielräume, nicht zuletzt der politischen Gestaltungsmöglichkeiten der moralisch Gutwilligen. Dies würde aber bedeuten, dass sie sich der Chance und insbesondere der Macht und der Mittel begeben, die gesellschaftlichen Strukturen so zu verändern, dass sie der Moralität weniger oder gar nicht widerstreiten.
Die Angewandte Ethik muss also auf eine Welt angemessen reagieren, in der moralisches Handeln oftmals nicht direkt umgesetzt werden kann, ohne Amok oder Spießruten zu laufen. Die nötigen Kompromisse sollten ihr Maß in einer verantwortungsethischen Position finden, d.h. sie sollten ökonomische Überlegungen und solche aus Staatsklugheit, die dem Erhalt der Gestaltungsmöglichkeiten dienen, so ausrichten, dass eine beständige Annäherung an die direkte Umsetzung moralischer Normen ermöglicht wird. Was dies hinsichtlich der je spezifischen Problemlage bedeutet, das ist die schwierige Frage, die im konkreten und öffentlichen Diskurs zu beantworten ist.
Rahmenbedingungen für Diskurse der Angewandten Ethik
Die Angewandte Ethik tut gut daran, ihre eigenen Verfahrensweisen, Entscheidungen und Ausgangspunkte zu reflektieren und offenzulegen. Und sie ist, um ihre kritische Funktion wahren zu können, darauf angewiesen, dass ihr in der Öffentlichkeit kompetente und streitbare Gesprächspartner entgegentreten. Entsprechende Komponenten in der Ausbildung der Techniker, der Mediziner und der Naturwissenschaftler gehören ebenso zu den demokratischen Rahmenbedingungen der Angewandten Ethik wie die entsprechende Bildung möglichst breiter Bevölkerungsschichten. Dem Bildungswesen fällt damit eine bedeutsame Rolle als Vermittler zwischen der Angewandten Ethik als einer sogenannten Expertenkultur einerseits und der Lebenswelt aller andererseits zu. Nur eine qualifizierte und aktive Teilnahme möglichst vieler an öffentlichen Debatten und Entscheidungsprozessen kann die kritische Einstellung der Angewandten Ethik zu sich selbst und zur vorgefundenen Praxis stabilisieren. Für die Experten der verschiedenen Fachgebiete ergibt sich daher die Aufgabe der populären, aber problemorientierten Darstellung ihrer Forschungsergebnisse.
Angewandte Ethik bedarf der Institutionalisierung und muss ihrerseits Institutionen thematisieren. Das erste ist notwendig, damit ihre Entscheidungen und Normierungen bereits in Forschung, Entwicklung und Produktion eine Rolle spielen können und nicht erst dann, wenn sich bestimmte Handlungsweisen und Technologien etabliert haben und Folgeschäden eingetreten sind. Das zweite ist nötig, weil bestimmte Handlungsweisen und Technologie selbst den Charakter von Institutionen annehmen, die individuelle Wahlmöglichkeiten einschränken. Dies soll freilich nicht heißen, dass die individualethische Perspektive gänzlich zugunsten der institutionenethischen aufgegeben werden soll. Der nicht zu unterschätzende Vorteil einer individualethischen Sicht besteht darin, dass Handlungsentscheidungen thematisiert werden, die tatsächlich weitgehend in der Macht des je Einzelnen liegen. Der Einzelne erscheint immer schon als entschuldigt, wenn er im Horizont der vorgegebenen Institution und des etablierten Systems denkt. Er ist gerechtfertigt, solange die gesellschaftliche Akzeptanz von institutionalisierten Lösungen nicht in Frage gestellt wird. Auch die individualethische Entscheidung verbleibt im institutionellen Rahmen. Eine weitergehende Kritik durch Einzelne wird daher oft verdächtigt, partikulare Interessen gegen die Interessen der Mehrheit durchsetzen zu wollen. Ein anderer Effekt ist, dass Einzelne in ihrem moralischen Engagement resignieren, weil sie sich von der Mehrheit ausgenutzt sehen. Der wichtigste Punkt, der die Grenze der individualethischen Perspektive markiert, ist aber freilich der, dass der gute Wille bei fehlenden institutionellen Alternativen letztlich machtlos bleibt. Die individualethische Problemsicht muss also durch eine Ethik der Institutionen ergänzt werden.
Zum Verhältnis von Moral und Verantwortung in der Angewandten Ethik
Der Problemaufriss sollte verdeutlicht haben, dass moralischen Grundsätzen im Rahmen der Angewandten Ethik ein anderer Status eignet als im Rahmen der Moralphilosophie. Innerhalb moralphilosophischer Konzepte sind das Moralprinzip, die moralischen Kriterien oder, im Falle der Diskursethik, das Rechtfertigungsverfahren konstitutiv für moralische Normen. Normen, die so begründet werden, sind aus Sicht der Moralphilosophie verbindlich. Im Rahmen der Verantwortungsethik aber fungieren die moralischen Grundsätze als regulative Ideen: Hier sind aufgrund der gegebenen Bedingungen - nämlich der wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen, kulturellen und weltanschaulichen - Kompromisse, also Abweichungen von den verbindlichen moralischen Normen, nötig, um Gestaltungsmöglichkeiten zu erhalten. Diese Abweichungen sollen aber immer so gerichtet sein, dass sie Verhältnisse herbeiführen, die solche Kompromisse unnötig werden lassen.
Diese Differenz zwischen der konstitutiven und der regulativen Funktion der Moralprinzipien im Auge zu behalten - das ist der entscheidende Punkt für das rechte Verständnis der Angewandten Ethik als Verantwortungsethik. Wenn nämlich die verantwortungsethisch nötigen Abweichungen von moralischen Verbindlichkeiten nicht mehr als Kompromisse, sondern als Begründung neuer Moralprinzipien und entsprechender moralischer Normen verstanden werden, dann geht dem politischen Diskurs der moralische Horizont verloren: Das Machbare, das unter gegebenen Bedingungen Durchsetzbare, wird dann mit dem Moralischen identifiziert. Die moralischen Grundsätze werden dann sukzessive aufgeweicht. Moralprinzipien können innerhalb der Verantwortungsethik nur dann eine regulative Funktion übernehmen, wenn ihre konstitutive Funktion innerhalb der Moralphilosophie anerkannt wird: Die Differenz zwischen den moralischen Normen und den unter gegebenen Bedingungen politisch, rechtlich und ökonomisch durchsetzbaren Normen muss bewusst bleiben, wenn die Perspektive sittlichen Fortschritts nicht aufgegeben werden soll.
Literaturhinweise
Eine ausführliche Darstellung dieses Konzepts der Angewandten Ethik sowie seine exemplarische Durchführung anhand ausgewählter Themen aus verschiedenen Bereichsethiken (Naturethik, Medizinethik, Medienethik, Ethik der Biotechnologie, Wirtschaftsethik) bietet das Buch:
Peter Fischer: Politische Ethik. München: Wilhelm Fink Verlag 2006.
Fragen der Technikphilosophie und der Technikethik werden behandelt in:
Peter Fischer: Philosophie der Technik. München: Wilhelm Fink Verlag 2004.
Kontakt
- Prof. Dr. Peter Fischer
- Gastprofessor am Humboldt-Studienzentrum für Philosophie und Geisteswissenschaften der
Universität Ulm - Oberer Eselsberg
- 89069 Ulm
- Telefon: +49 (0)731/50-23464
- Telefax: +49 (0)731/50-57910
Humboldt-Studienzentrum für Philosophie und Geisteswissenschaften - Gastprofessur für Philosophie
Veranstaltung
09. Juni 2008, 20:00 Uhr
Stadthaus Ulm
Humboldt-Lecture:
"Biopolitik - Handlungsfeld oder Paradigma des Politischen. Überlegungen zu Michel Foucault und Giorgio Agamben"