Ursachendeutungen von und Verfahrensweisen mit ungleichen Krankheitsverteilungen. Eine begriffsgeschichtliche Analyse sozialer Ungleichheit zwischen Gesundheitswissenschaften, Politikberatung und Gesundheitspolitik

Die gesundheitswissenschaftliche Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit beginnt spätestens mit der Veröffentlichung des Black Reports für Großbritannien im Jahr 1980, an den sich eine Forschungsrichtung anschließt, die in ihrem Kern herausarbeitet, dass Menschen die verhältnismäßig ärmer sind, auch häufiger krank werden. Demnach lässt sich ein Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit auf der einen Seite und gesundheitlichen Ungleichheiten auf der anderen Seite attestieren. Dieser wurde insbesondere für Herz-Kreislauferkrankungen belegt, aber auch andere Krankheitsbilder wurden untersucht. Das Spektrum an Krankheiten reicht vom Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Mundkrankheiten bis hin zur Frage von Ungleichheiten in Bezug auf Depression und Selbstmordversuche. Seit der erstmaligen Berufung des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen im Jahr 1985, die sich über § 142 Sozialgesetzbuch V legitimiert, lässt sich darüber hinaus für Deutschland eine institutionalisierte gesundheitspolitische Politikberatung nachzeichnen. Der Sachverständigenrat informiert die gesundheitspolitischen Debatten im Deutschen Bundestags und Bundesrat. Die Geschichte der gesundheitspolitischen Verwendung des Schlüsselbegriffs der sozialen Ungleichheit lässt sich so über die drei skizzierte Teildiskurse hinweg analysieren.

Die Leitfrage des Dissertationsprojektes lautet entsprechend, wie sich die Bedeutung des Begriffs ‚soziale Ungleichheit‘ zwischen dem wissenschaftlichen, dem politikberatenden und dem gesundheitspolitischen Teildiskurs im historischen Verlauf verschiebt. Dafür gilt es zu untersuchen welche a) Muster der Ursachendeutung und b) welche Verfahrensweisen mit Ungleichheiten in der Gesundheit mit der Begriffsverwendung einhergehen.

Gegenstand des Projektes ist eine Geschichte des Begriffs der sozialen Ungleichheit in der Bundesrepublik von 1975 bis 2009. Es wird der Versuch unternommen die Verschränkung von medikalen Verständnissen sozialer Ungleichheit in Deutschland mit politikberatenden und gesundheitspolitischen Verstehensweisen zu rekonstruieren. Anhand der Analyse von lebens- und sozialwissenschaftlichen Fachartikeln, als auch von politikberatenden Texten soll untersucht werden, inwiefern gesundheitsrelevante Probleme sozialer Ungleichheit dargestellt und an politische Entscheidungsträger herangetragen werden. Die analoge Analyse von Debatten im Bundestag soll zeigen, wie soziale Ungleichheit in der deutschen Gesundheitspolitik konstruiert wird. Es ist darüber hinaus zu prüfen, ob die in den wissenschaftlichen Texten benannten Problemfelder im politischen Teildiskurs im semantischen Kontext anderer Schlüsselbegriffen diskutiert werden. Konkret stellt sich beispielsweise die Frage, ob die in Fachartikeln herausgestellte soziale Ungleichheit in der Zahngesundheit, bei Rückenproblemen oder des Herzinfarktrisikos in der Politik im semantischen Feld des Begriffs der ‚Gerechtigkeit‘ diskutiert wird.

Ziel ist es, einen Beitrag zur Medikalisierungsdebatte zu leisten. Es wird erstens nachgezeichnet in welchen historischen Phasen eine Übertragung des Begriffs Ungleichheit aus der Gesundheitswissenschaft in die Politikberatung und die Politik stattfand. Zweitens wird debattiert ob sich über a) die Deutungsmustern von Ungleichheit und b) die Verfahrensweisen mit Ungleichheit eine historische Individualisierung des Umgangs (liberale Wende) mit sozialen Ungleichheiten in der Gesundheit  belegen lässt.

 

Verantwortlich für das Projekt:

Sebastian Kessler, M.A., Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universität Ulm