Hygienepropaganda und theatrale Biopolitik in der Sowjetunion der 1920er- 40er Jahre. Das Moskauer Theater der Sanitären Kultur als Fabrik des Neuen Menschen.

 

Das Forschungsvorhaben untersucht die Funktion und Wirkung offizieller Gesundheitspropaganda in der Sowjetunion während der ersten drei Jahrzehnte nach der Oktoberrevolution am Beispiel theatraler Inszenierungen von Gesundheit und Krankheit. Das politische 'Heilsziel' eines 'neuen Menschen', das sich die bolschewistische Disziplinarmacht auf die Fahnen schrieb, erforderte sowohl geistige als auch körperliche Erneuerung und damit eine hygienische Optimierung der Massen. Zu diesem Zweck wurden seit Beginn der 1920er Jahre auf Freilichtbühnen und in den Klubhäusern, in Fabrikhallen und Lesehütten für Arbeiter und Bauern und selbst auf den Kolchosfeldern der Sowjetrepublik Agitprop-Revuen, Agitgerichte, "Lebendige Zeitungen" und Lehrstücke aufgeführt, die aktuelle sozialmedizinische Probleme thematisierten. Ein Großteil dieser Darbietungen wurde von den Organen des Volkskommissariats für Gesundheitsschutz veranstaltet und ab 1925 zentral institutionalisiert, indem man dafür in Moskau ein eigenes Theater gründete. Dieses Theater der Sanitären Kultur steht im Mittelpunkt des Projekts.

Der Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Beobachtung, dass das seinerzeit avancierteste kommunikative Mittel der "sanitären Alphabetisierung", die Schauspielkunst, noch nicht in den Blick genommen wurde, obwohl die Popularisierung und Inszenierung hygienischen Wissens von der Historiographie der Sowjetunion in ihrer machtpolitischen Tragweite häufig reflektiert werden. Mithin stand gerade das Theater als performativer Ort eines direkten Dialogs mit dem Zuschauer, im Fokus der frühsowjetischen Hygienisierung. Die durch den Körpergebrauch des Schauspielers bestimmte Kunstform des Theaters schien wie geschaffen für die Aufgabe, hygienisches Körperwissen zu vermitteln. Das an der Schnittstelle zwischen Medizin- und Theaterhistoriographie angesiedelte Projekt will diese Forschungslücke anhand einer Theatervita schließen. Die Möglichkeiten und Grenzen theatraler Medikalisierung und Biopolitik sollen vor dem soziokulturellen und politisch-ideologischen Hintergrund der frühen Sowjetunion und im Hinblick sowohl auf die wechselnden theaterpolitischen Strömungen (Produktionskunst, Faktographie, Sozialistischer Realismus) als auch auf maßgebliche sozialmedizinische Konzepte (Prophylaxe, kollektive Reflexologie, Hypnosuggestion, Iatrogenie, Theatertherapie) auf verschiedenen Handlungsebenen erschlossen werden.

Projektleitung: Prof. Dr. Igor Polianski

Projektmitarbeit Phase 1 (2018-2021): Dr. Oxana Kosenko

Projektmitarbeit Phase 2 (ab 2022): Jana Schulz, M. A. 

gefördert von: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)