„Das Anderssein stehen lassen können“

Professor Dr.  Florian Steger lehrt Medizinstudierenden den sensiblen Umgang mit Patientinnen und Patienten aus anderen Kulturen. Im Interview erklärt er, warum Empathie so essentiell für den Therapieerfolg ist – und ein Gewinn für die gesamte Gesellschaft.

„Das Anderssein stehen lassen können“

Für uns bedeutet Empathie, Patienten so anzunehmen, wie sie sind. Und sich in sie hineinzubegeben, um besser verstehen zu können, mit welchen Bedürfnissen sie zu uns kommen.

Auf jeden Fall. Wir versuchen, das den Studierenden auf verschiedenen Ebenen beizubringen. Durch Wissen, Fertigkeiten und eine Haltung – im Sinne einer Offenheit für’s Anderssein. Anderssein ist erstmal für uns alle irritierend. Wir müssen aber darauf eingehen und reagieren. Das lässt sich über Skills-Training leisten.

Wir wissen aus der Psychotherapieforschung, dass es diese Beziehungsvariable gibt. Wenn der Patient/die Patientin und der Therapeut/die Therapeutin gut passen, ist das der beste prognostische Faktor für den Erfolg der Psychotherapie. Natürlich können wir niemanden durch Zuhören heilen, wenn er oder sie somatisch krank ist. Aber die psychosozialen Kontexte spielen eine große Rolle. Heute ist es eigentlich selbstverständlich, dass bei einer schweren Erkrankung auch psychosoziale Betreuung angeboten wird. Das können auch Sozialarbeiter sein, Ergo- und Physiotherapeuten, Logopäden oder sogar Kulturschaffende. Auch Musik und Literatur kann sehr unterstützend wirken.

Man muss als Patientin und als Patient erstmal Zugang bekommen. Das ist oft sehr kompliziert. Die Behandlung eines Geflüchteten bedeutet meist doppelt so viel Verwaltungsaufwand. Vieles ist zudem noch ungeklärt: Wie rechnet man Leistungen ab? Wie kommen Geflüchtete an eine Gesundheitskarte? Wie kommen sie in die Praxis?  Ist ein Übersetzer dabei? Deswegen ist es wichtig, dass wir das Menschenrecht auf eine Basisgesundheitsversorgung formulieren. Was wir brauchen, sind visionäre und mutige Entscheidungen, die echte Möglichkeiten schaffen. Wenn ich Geflüchtete immer nur im Ghetto lasse, wird sich nichts ändern.

Weil sie den Blick verändert. Wir müssen uns bewusst machen: Je gleich gemachter eine Gesellschaft ist, desto gefährdeter ist die Demokratie. Migration, wenn sie gelingt, kann stabilisierend sein für demokratische Strukturen, weil wir dadurch als Gesellschaft diverser werden. Das setzt allerdings voraus, dass man die Bürgerinnen und Bürger mitnimmt. Leider gelingt uns das nicht immer.

Absolut. Immer dann, wenn Therapie die Professionalität verliert. Unsere Studierenden lernen, dass sie eine professionelle Rolle einnehmen müssen, die auch einen Abstand erfordert. Wenn die Fürsorge zu sehr ausgeprägt ist, hilft das oft wenig. Man muss aus Respekt vor der Autonomie auch stehen lassen können, dass sich jemand nicht helfen lassen möchte. Das ist nicht leicht.

Das A und O ist, sich einzulassen auf das Gegenüber und das Anderssein stehen lassen zu können. Zu verstehen, dass die Bauchschmerzen für Ängste stehen können, weil das in einem Land so heißt. Dafür muss ich mich mit den anderen Kontexten auseinandergesetzt haben und ich muss neugierig bleiben. Wer die Neugierde auf den anderen verliert, ist in einem sozialen Beruf falsch.

Bereicherung durch neue Perspektiven. Mein wissenschaftliches Team zum Beispiel besteht mehrheitlich aus Nicht-Deutschen. Diversity leben wir jeden Tag auf dem Gang. In der Forschung tut uns das ebenfalls gut, weil wir zusammen ganz anders denken.