Medizinhistorischer Streifzug durch Ulm

Die Verbindung von Medizinhistorie und lokaler Kulturgeschichte

Die im 9. Jahrhundert (854) erstmals urkundlich erwähnte, ehemalige reichsunmittelbare Stadt Ulm (bis 1802) stellte bis zum 16. Jahrhundert eine Wirtschafts- und Handelsmetropole überregionaler Bedeutung dar und weist eine besonders gut durch Archivmaterialien dokumentierte Medizingeschichte auf. Ziel des Projektes war es, diesen Fundus an medizinhistorischem Wissen mit Erfahrungen themenzentrierter Gästeführungen als Form der Jugend- und Erwachsenenbildung zu verknüpfen. Dazu publizierten die Mitarbeiter in diesem Projekt, Prof. Dr. Dr. Hans-Joachim Winckelmann (Medizinhistoriker und Emeritus des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Ulm), Kathrin Schulthess M.A. (städtische Gästeführerin), Dr. Gudrun Litz (wissenschaftliche Mitarbeiterin im Haus der Geschichte/Stadtarchiv Ulm) und Dr. Frank Kressing (Mitarbeiter am GTE-Institut und Gästeführer) 2011 einen „medizinhistorischen Stadtführer“ für Ulm, der entscheidende medizingeschichtliche Entwicklungen mit markanten Orten des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadtbildes – bis hin zum Bau der Baufestung um Ulm und Neu-Ulm (1843-1859) - verknüpft.

Im Laufe ihrer unterschiedlichen Tätigkeiten in der medizin- und stadtgeschichtlichen Forschung wie auch als städtische Gästeführer wurde den Autorinnen und Autoren bewusst, dass die Orte früheren medizinischen Wirkens in der ehemals sehr bedeutenden Reichstadt Ulm mit ihrer reichhaltigen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte bislang nur sehr unvollständig aufgearbeitet worden sind. Deshalb gibt der „Medizinhistorische Streifzug“ Antworten auf die Frage: Wo genau wirkten in früheren Zeiten Ärzte und Ärztinnen wie Heinrich Steinhövel, Agathe Streicher, Johannes Scultetus und Johannes Palm, nach denen heute Straßen, Straßenbahnen und medizinische Fachgesellschaften benannt sind?

Die Autoren möchten mit diesem medizingeschichtlichen Stadtführer vor Augen führen, wo und in welcher Gestalt sich Repräsentationen von Medizin in der Stadt Ulm erhalten haben. Deshalb ist das Buch bewusst in Form eines medizingeschichtlichen Rundgangs konzipiert, der sich keinesfalls nur an Fachleute aus der Medizin und Historie, an Vertreter von der Kultur-, Sozial- und Lebenswissenschaften richtet, sondern gerade auch an Reisende und Ulmer Bürger, die durch die Stadt schlendern und sich für Fragen des Gesundheitswesens in Geschichte und Gegenwart interessieren.

Der Rundgang

Der Rundgang beginnt auf dem ehemaligen Pfalzbezirk, am Weinhof. Dort schworen im Steuerhaus die Mitglieder des Collegium Medicum ihren Amtseid. Der Stadtphysikus Eberhard Gockel nahm im 17. Jahrhundert die Praktiken des Weinhandels genauer unter die Lupe: Er beschäftigte sich mit der Colica pictonum, Weinkrankheit, und schrieb ein Traktat Über das Süßen von saurem [Ulmer] Wein mit Bleiweiß und dem großen Schaden für die, die ihn trinken.

Münster und Münsterplatz

Zeugnisse medizinischen Wirkens im Ulmer Münster finden sich in Gestalt einer Altarstiftung durch den ersten urkundlich erwähnten Physikus der Stadt, Johann Rayser, in Gestalt des Heiligen Antonius, der als einer der Schutzpatrone des Münsters auch für Mutterkornvergiftungen zuständig war, in Gestalt des heiligen Sebastian am Sakramentshaus und in der Neidhartkapelle, der gegen die Pest angerufen wurde, und in Gestalt der Arzt- und Apothekenpatrone Kosmas und Damian im Chorgestühl.

Der Rundgang führt weiter über den Münsterplatz, beschäftigt sich mit den Bestattungen auf dem Friedhof des Barfüßerklosters als Zeugnis des Gesundheitszustandes der Bevölkerung des 13. bis 16. Jahrhunderts, dem frühen Apothekenwesen in Ulm, Kräuterbüchern und Herbarien sowie dem Kuriosum des „fliegenden Steinschneiders“ Charles Bernoin. Ausführlich werden berühmte Ärztepersönlichkeiten der Stadt wie Heinrich Steinhövel, Johannes Münsinger – der Leibarzt des Württemberger Herzogs Eberhard „im Bart“, Agathe Streicher, Johannes Stocker und die Ärztefamilie Palm behandelt, deren Häuser sich zwischen Marktplatz, Münsterplatz und Donaustraße befanden. Von Johannes Stocker stammt übrigens eines der ersten überlieferte Rezepte für Amalgam- Füllungen.

Donau-Ufer, Heilig-Geist-Spital und „Auf dem Kreuz“

Über die Dreifaltigkeitskirche – ehemaliges Dominikanerkloster und heute „Haus der Begegnung“ - führt der Rundgang an der Donau entlang zur Adlerbastei, Ort des vor genau 200 Jahren gescheiterten Flugversuchs des Schneiders von Ulm, Albrecht Ludwig Berblingers. Weniger bekannt als Berblingers Flugapparat sind die durchaus funktionstüchtigen Beinprothesen, die er für die Kriegsversehrten der Napoleonischen Feldzüge entwickelt hatte. 

In unmittelbarer Nähe der Adlerbastei befand sich das Heilig-Geist-Spital. Dies war vom 13. bis zum 19. Jahrhundert die zentrale medizinische Versorgungseinrichtung der Stadt. Weitere Institutionen der Gesundheitsfürsorge befanden sich im Osten des mittelalterlichen Stadtkerns, „Auf dem Kreuz“: so etwa das Blatternhaus im Seelgraben, in dem die berüchtigte Schmier- und Holzkur gegen die Franzosenkrankheit – die höchstwahrscheinlich aus der Neuen Welt eingeschleppte Syphilis – verabreicht wurde.

„Auf dem Kreuz“ befanden sich jedoch auch städtische Bäder wie das Griesbad, das „Lusthaus“ des Mohren-Apothekers, und nicht zuletzt das Funden- und Waisenhaus, dessen Ärzte ein festgelegtes Gelöbnis ablegen mussten, „des Sehls Doctots Pact.“ Diese ethische Selbstverpflichtung der Seelhausärzte wird im Medizinhistorischen Streifzug erstmals dokumentiert. Nicht zuletzt war „das Kreuz“ im 17. Jahrhundert auch Wohnort des Dr. Scultetus, des ersten promovierten Chirurgen der Stadt, der seine Ausbildung in Wien und Padua genossen hatte.

Pesthäuser, Bäderwesen und Bundesfestung

Leprastationen sowie Siechen- und Brechenhäuser für die Pestepedimien befanden sich außerhalb der Stadtmauern – so etwa das im 17. Jahrhundert errichte „Kleine Lazaretto“ des Stadtbaumeisters Joseph Furttenbach auf der Gänstorwiese. Im Gebäude des ehemaligen Armen-Leprosiums Sankt Leonhard in der Friedensstraße finden wir heute den Kindergarten der kath. Sankt-Georgs-Gemeinde (im Anne-Frank-Heim).
In einem historischen Rückblich widmet sich der „Streifzug“ ausführlich den Pestepidemien, dem Heilbäderwesen in Ulm und Umgebung sowie der Medizin im 18. Jahrhundert und schließt mit einem Kapitel über die Bundesfestung, das den die medizinischen und sanitären Verhältnisse zu Zeiten ihrer militärischen Nutzung, der Umwandlung in ein Konzentrationslager und zu Zeiten der Nutzung der Befestigungsanlage als Flüchtlingslager nach dem Zweiten Weltkrieg gewidmet ist.

Publikation

Winckelmann, H-J, Schulthess, K, Kressing, F, Litz, G, Medizinhistorischer Streifzug durch Ulm. Ulm 2016 (3. Auflage)

Medizinhistorischer Streifzug im "Schwabenradio" - Mitschnitt SWR-Studio Ulm