Ein Weggefährte erinnert sich
Trauer um Altrektor und Gründungsprofessor Theodor Fliedner

Mit Prof. Dr. med., Dr. med. h.c. mult. Theodor M. Fliedner ist am 9. November 2015 der letzte - und bei der Universitätsgründung jüngste - der Gründungsprofessoren der Universität Ulm verstorben, im Alter von 86 Jahren. Im Ulmer Münster fand eine würdige Trauerfeier statt, mit Beiträgen des Universitätspräsidenten Prof. Weber, des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden des Universitäts-Klinikums, Prof. Debatin,  und  Prof. Hoelzer vom Universitätsklinikum Frankfurt, der als  Wissenschaftler Schüler und Weggefährte Fliedners war. 

Den meisten Lesern dieser Zeitschrift (uni ulm intern) wird Fliedner als Rektor der Universität in Erinnerung sein. Er war dies von 1984 bis 1992, also über 2 Amtsperioden hinweg. In dieser Zeit war es ihm gelungen, die Zukunft der Universität durch eine Erweiterung des Fächerspektrums um die Ingenieurwissenschaften und die Informatik abzusichern, auch äußerlich sichtbar durch den Bau der Uni-West. Er war mitverantwortlich für die Gründung der sog. Wissenschaftsstadt auf dem Oberen Eselsberg, also die immer noch wachsende Ansiedlung forschungsintensiver Industrie dort oben, von der er sich ein Zusammenwirken mit der Universität erhoffte. Man weiß das und hat es oft gelesen.

Zweifellos waren diese Jahre ein wichtiger Abschnitt im Leben von TMF (wie ihn ihm Nahestehende immer nannten), aber er war ja nicht nur Visionär, Manager und Macher, sondern ein bedeutender Wissenschaftler auf dem Fachgebiet der Hämatologie, der er sich ganz früh von der Strahlenbiologie her genähert hatte. Es soll hier versucht werden, seinen beruflichen Weg und seine wissenschaftlichen Interessen und Erkenntnisse wenigstens in grundlegenden Zügen nachzuzeichnen.

Der gebürtige Hamburger, Sohn einer durch den Protestantismus geprägten Großfamilie, hat in Göttingen und Heidelberg Medizin studiert. In Göttingen hat er unter anderem auch den Philosophen Nicolai Hartmann  gehört, dessen Gedanken er gelegentlich zitierte. In Heidelberg promovierte er über die Strahlenwirkung auf das Knochenmark der Ratte und bezog sein erstes Labor in der Strahlenklinik der Universität, dem Cerny-Krankenhaus. Gleich dort warb er erfolgreich  Forschungsmittel ein ("Drittmittel" zur Finanzierung der Laborarbeit).

Absolutes Mekka der Erforschung der Strahlenwirkung auf biologische Gewebe war damals das Brookhaven National Laboratory der USA; dorthin ging er dann und blieb insgesamt 6 ihn prägende Jahre "drüben" (1957-1963). Seine Lehrer dort waren Eugene Cronkite und Victor Bond; er hat sie immer verehrt. Auch lernte er den für seine Untersuchungen zur Knochenmarktransplantation mit dem Nobelpreis geehrten Don Thomas kennen. Und er hatte das Glück des Tüchtigen: Mit der Verwendung des radioaktiv markierten DNA-Bausteins Thymidin war es möglich geworden, den Zellumsatz in den  Körpergeweben, auch in Tumoren, in aufwendiger Mikroskopierarbeit zu bestimmen, das heißt die Vermehrung, Differenzierung und schließlich das Absterben der Zellen gerade auch im Knochenmark und im Blut des Menschen kennenzulernen und im zeitlichen Ablauf zu beschreiben - die Zellkinetik eines Zellerneuerungssystems. All dies wurde in Brookhaven von einem internationalen Team gemeinsam erarbeitet.

Ein weiteres Faktum, zunächst als eine Überlegung, ist für Fliedner von entscheidender Bedeutung gewesen. In einem Zellerneuerungssystem, dessen "Endprodukte" schließlich untergehende Zellen sind, muss es auch Zellen geben, die ständig als Ursprungszellen da bleiben, nicht "verbraucht" werden; wir nennen sie "Stammzellen". Die ersten dieser Zellen besiedeln im Verlaufe der Embryonalentwicklung das Knochenmark, später auch Areale, in denen die blutbildenden Zellen zerstört wurden. Das geschieht beides durch die Stammzellen und natürlich nicht anders als auf dem Blutwege. Sind dort, d.h. im Blut selbst, auch später immer welche vorhanden? Die Antwort ist: "ja". - Diesem wichtigen Aspekt der Hämatologie galt Fliedners wissenschaftliches Lebenswerk.

Nachdem er durch die Publikationen in den USA bekannt geworden war, kam er, wie viele andere Wissenschaftler mit Unterstützung von EURATOM, und  vom Freiburger Hämatologen Heilmeyer ausgespäht, nach Deutschland zurück. In  Freiburg wurde er Direktor eines Euratom Instituts in Verbindung mit der Münchner Gesellschaft für Strahlenforschung. Es gelang ihm rasch, eine Gruppe aufzubauen und auch Doktoranden zu gewinnen. Dabei half ihm ganz gewiss seine ansteckende Begeisterungsfähigkeit und sein persönliches Charisma. Als unter Heilmeyer, inzwischen Gründungsrektor von Ulm, 1967 die ersten Lehrstühle in Ulm besetzt wurden, war Fliedner dabei. Er hatte auch an der Denkschrift zur Ulmer Gründung mitgearbeitet. Hämatologie war von der Landesregierung als ein klinischer Schwerpunkt für Ulm festgeschrieben.

Fliedner kam also 1967/68 nach Ulm, und mit ihm eine ganzes, international zusammengesetztes Team. Dazu gehörten bereits ausgewiesene Wissenschaftler, die Doktoranden und  technische Mitarbeiter sowie, von natürlich auch großer Bedeutung, eine Geräteausstattung, die sofortiges Weitermachen am neuen Ort erlaubte. Die Fliedner'sche "Abteilung für klinische Physiologie" (AKP) im Zentrum für klinische Grundlagenforschung war die erste arbeitsfähige Abteilung der neuen Universität, die damals noch als Medizinisch-Naturwissenschaftliche Hochschule firmierte.

Es herrschte Aufbruchsstimmung. Auch von anderen Einrichtungen kamen junge Wissenschaftler, zum Teil auch mit eigener Forschungserfahrung, nach Ulm und zu TMF. Er war ein großzügiger Förderer und hat den Jüngeren, nachdem er von deren Eigenständigkeit in der hämatologischen Forschung überzeugt war, alle Freiheit und alle technischen, und das hieß eben auch die finanziellen, Möglichkeiten, gewährt. Dem diente zunächst die in Ulm etablierte "Forschergruppe für klinische und experimentelle Leukämieforschung" der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Später dann, in enger Zusammenarbeit mit den Klinikern, der 12 Jahre von der DFG finanzierte, von TMF inspirierte Sonderforschungsbereich "Hämatologie" (SFB 112). - Das Einwerben von sog. Drittmitteln war ihm immer wichtig, um seinen Projekten nachgehen zu können und auch, um die zahlreichen Mitarbeiter weiter finanzieren zu können  -  dies ist allerdings für die Gutachter kein  Kriterium, aber die Qualität seiner Anträge erhöhte auch dafür die Chancen. Damit hatte er sogar noch als Emeritus und Altrektor großen Erfolg.

Es gab viel zu tun in der jungen Universität, und Fliedner hat sich dem gestellt, zunächst als Dekan der Fakultät für Theoretische Medizin. Auf der Reisensburg, für die er nach Heilmeyers Tod die Verantwortung übernommen hatte, hatte Fliedner der noch jungen Rehabilitationsforschung Raum gegeben. Finanzier dieser Aktivität war die Landesversicherungsanstalt Württemberg, die großes Interesse an einer Zusammenarbeit mit Ulm hatte (daraus wurde später die heutige SAMA, die Sozial- und Arbeitsmedizische Akademie). - Auch Krisenzeiten gab es, in denen die ganze Ulmer Gründung gefährdet erschien. Als die ersten Studenten das Physikum abgelegt hatten, waren viele Lehrstühle noch nicht besetzt, die Universität musste sich mit Lehraufträgen behelfen. Das würde auch die bis dahin nicht besetzten Fächer Arbeitsmedizin und Sozialmedizin betreffen. Einsparungen könnten auch die Existenz von Fliedners Abteilung berühren, die ja kein klassisches klinisches Fach repräsentierte. 

Was machte Fliedner nun? Er bot der Fakultät kühn an, die Lehre in den Fächern Arbeitsmedizin und auch Sozialmedizin zu übernehmen, bekam den Auftrag dazu und gestaltete die Lehre in einem großen Umfeld von Praktikern dieser Fächer. In den 80er Jahren kam die Umweltmedizin als Fachgebiet dazu. Aus der AKP war ein Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin (IASU) geworden. Fliedner hatte auch die Praxis der Arbeitsmedizin als Leiter des Betriebsärztlichen Dienstes für Universität und Klinikum in die Hand genommen.  -  Sein eigenes Feld, auch als Rektor und noch danach, blieb jedoch die Stammzellforschung und die Strahlenhämatologie; in den weiteren Bereichen beschränkte er sich auf die Funktion des Initiators, Moderators und Beraters.

Deswegen noch einmal etwas zur Hämatologie. Die Stammzellforschung erforderte ein umfangreiches Methodenarsenal: Zellkulturtechniken, Kryopräservation, Zellseparationstechniken, zuverlässige Strahleneinwirkung einschließlich der Strahlenmesstechnik, mikroskopische Analyse, auch das tierexperimentelle Arbeiten mit keimfreien Tieren (daraus entwickelte sich später das "Ulmer Zelt", in dem gefährdete Patienten vor Infektionen geschützt werden konnten)  und manches mehr. Die entsprechenden Labore mussten eingerichtet und entsprechend den jeweils neuesten Bedürfnissen ausgestattet werden. Das Zentrum für klinische Grundlagenforschung bot dafür gute Voraussetzungen. - Fliedner dachte und plante immer im Hinblick auf Erkrankungen des Menschen: die präklinische Forschung in seinem Interessengebiet erforderte schon allein wegen des Blutvolumens besondere Versuchsansätze, zunächst mit Schafen, dann mit Hunden (und nicht etwa Mäusen). Auch das wurde durch die Tierversuchsanlage ermöglicht.  

Immer stand er mit seinen Projekten in regem internationalem Austausch. Geradezu ein Wettbewerb um die Kenntnisse über die Natur der Stammzelle bestand mit dem holländischen TNO-Labor in Rijkswijk. Über die EORTC (European Organisation for Research and Treatment of Cancer) war man miteinander verbunden. Wohl alle Spitzenforscher der experimentellen Hämatologie besuchten Ulm, insbesondere zu den Symposien auf der Reisensburg - und sie saßen dann auch in den Labors, um mit den Mitarbeitern zu diskutieren. Ulm war wirklich nicht provinziell.

Als klar geworden war, dass die Stammzellen des peripheren Blutes ein uneingeschränktes Potential für die Knochenmarksregeneration besaßen, dauerte es noch eine ganze Weile, bis dies allgemein anerkannt und so, wie von Fliedner "prä-klinisch" vorbereitet, auch klinisch umgesetzt wurde. Und  genau dafür wurde er in den letzten Jahren ganz besonders geehrt. - Er war Träger des Bundesverdienstkreuzes, Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, der Akademien in Mailand, der Ukraine; Ehrenmitglied der Gesellschaften für Hämatologie der USA, Italiens und Ungarns; Ehrendoktor der Universitäten Uppsala, Debrecen und Bangkok; erhielt weitere Auszeichnungen wie z.B. den Mechthild-Hanf-Preis der Deutschen Knochenmark Spenderdatei.

Wichtigster Partner in Ulm zu den Zeiten des SFB 112 war Prof. Dr. Hermann Heimpel, der Chefarzt der Abteilung Hämatologie des Universitätsklinikums. Er ist, ein Jahr vor Fliedner, im Herbst 2014 gestorben. Beide kannten sich von Freiburg her; sie hatten manchmal Mühe, gut miteinander auszukommen - sie waren sehr unterschiedliche Charaktere und hatten unterschiedliche Aufgaben. Trotzdem war Heimpel in den ersten beiden Jahren des Rektorats Fliedners von ihm vorgeschlagener und auch gewählter Prorektor. Fliedner, der immer nach vorne blickende forschungsorientierte Wissenschaftler mit seinen Forschungsverträgen und - gefühlt - unerschöpflichen  Drittmitteln (Heimpel: "mein Finanzminister"), Heimpel der der Wissenschaft aufgeschlossene Arzt, der immer mit seiner Verantwortung gegenüber den Kranken, seinen Patienten, argumentieren musste. Heimpel, an den Fliedner regelmäßig junge Assistenten "verlor", weil sie die ärztliche Weiterbildung anstrebten, Fliedner als der, der die Entscheidung über den  Wechsel eben doch Heimpel überlassen musste. So kam es, dass Martin Körbling nach einem USA Aufenthalt in Heidelberg landete, und dort in der Klinik die erste autologe Blut-Stammzell-Transplantation erfolgreich durchführte, das heißt mit den Zellen, die dem Blut des Patienten selbst vor einem Therapieeingriff abgenommen worden waren.

Durchgängiger Schwerpunkt Fliedners blieb die Radiobiologie des Knochenmarks. Inwieweit konnte man aus der "Stammzellkonstellation" und den übrigen Blutwerten prognostische Schlüsse ableiten? Dem diente unter anderem eine Datenbank von Strahlenunfällen, die zusammen mit russischen Experten aufgebaut wurde. Lassen sich solche Angaben für eine Modellbildung der Hämopoese nutzen? Wie kommen die Strahlenspätschäden zustande (Arbeiten im Rahmen der EULEP, der European Late Effects Project Group)? In diesen Zusammenhang gehört auch seine Arbeit in der deutschen Strahlenschutzkommission und bei der Weltgesundheitsorganisation.

Als Fliedner das Rektoramt hinter sich hatte und bald darauf emeritiert wurde, bezog er einen großen Emeritusbereich und machte weiter. Jetzt ging es ihm vermehrt um den Wissenstransfer und die Wissenschaftler aus den östlichen Nachbarstaaten (er hatte auch zuvor schon immer Gastwissenschaftler aus Osteuropa in der Abteilung gehabt) und deren Fortbildung. Er wollte wohl etwas von dem weiterreichen, wovon er selbst als junger Forscher in den USA so profitiert hatte.

Gab es - von außen gesehen -  auch einen Privatmann Fliedner? Für die Mitarbeiter kaum oder zumindest selten, er hatte schlicht nur wenig Zeit. Seine häusliche Umgebung blieb weitgehend unbekannt. Während der Anfangsjahre in Ulm hat er gelegentlich Tennis gespielt, später stand er öfters auch auf Skiern. Klassische Musik hat er gerne angehört, bei den Reisensburg-Treffen ein Kammerkonzert in das Programm mit eingeplant. Er besuchte gerne Opern, in Ulm, München und sonstwo; er war ja sehr viel in der Welt unterwegs. Institutsfeiern fanden auf der Reisensburg statt. Dabei hat dann auch Persönliches eine Rolle gespielt. Im smalltalk war er gerne ein Charmeur. - Als er Jahre nach einer Trennung 1983 der Arbeitsmedizinerin Dr. Gisela Fliedner begegnete, die  an einem Kurs der SAMA teilnahm, entstand bald danach eine Patchwork-Familie mit insgesamt 5 Kindern. Es war genau die Zeit, in der er zum Rektor der Universität gewählt wurde. Seine Frau kam offensichtlich ohne Zögern damit  zurecht, dass ihre Anwesenheit bei vielen Anlässen erwartet wurde, obwohl sie ja ihrem Beruf nachging; sie hatte protokollgemäß oft in der ersten Reihe zu sitzen. Er selbst war, und das schien nicht nur so, schlicht glücklich über die neue Situation. Eine immer frohen Mut ausstrahlende Frau mit schwäbischen Wurzeln, das hat dem immer Hamburger gebliebenen TMF sehr gut getan. Als Rückzugsort gab es für die beiden ein Chalet in der Schweiz.

In den Jahren, als seine Krankheit zunächst  langsam voranschritt, er aber doch oft in die Klinik musste, sah sein Krankenzimmer nicht viel anders aus als sein Emeritus-Büro; er wollte auch von dort aus seine Aktivitäten weiterführen, hat diese erst spät beendet. In seinen letzten Lebensjahren hat sich seine Frau dann fast ausschließlich um ihn gekümmert.

Noch eine kurze Ergänzung: Nach Fliedners Emeritierung wurde ein Berufungsverfahren für einen Nachfolger eingeleitet, aber vorzeitig abgebrochen. Sein Stellvertreter, der schon 1969 zu Fliedner gekommen war, wurde bis zu seiner Altersgrenze mit der Leitungsfunktion des Instituts betraut. Es wurde dann 2005 geschlossen.

Wir haben dann nach insgesamt 38 Jahren AKP bzw. IASU ein großes Abschiedsfest gefeiert, zu dem die im Text genannten ehemaligen Ulmer, die Noch-Ulmer und vor allem auch die große Anzahl der  hier namentlich nicht angeführten "Ehemaligen" gerne kamen. Die meisten aus dieser großen "Familie" haben sich im Herbst 2014 bei der Trauerfeier für Prof. Heimpel gesehen. Sie reisten im November 2015 erneut an;  jetzt aber, nach Fliedners Tod, hat für sie Ulm seine zentrale Bedeutung endgültig verloren.

Hans-Joachim Seidel

Zum Autor:
Prof. Hans-Joachim Seidel arbeitete seit 1969 eng mit Prof. Theodor Fliedner an der Universität Ulm zusammen. Nach Fliedners Emeritierung übernahm der langjährige Stellvertreter die Leitung des Instituts für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin (2005 geschlossen).

Das Ulmer Zelt

Die Zwillinge Erwin und Werner wurden wegen ihren angeborenen schweren Mängeln des Immunsystems in einem eigens entworfenen keimfreien Zelt behandelt.

Film