31. Gift oder Segen - die Dosis macht's

Wenn ihr jedes Gift richtig erklären wollet, was ist dann kein Gift?
Alle Dinge sind ein Gift und nichts ist ohne Gift, nur die Dosis bewirkt, dass ein Ding ein Gift ist.

(Paracelsus)

Schon der Philosoph und Arzt Paracelsus (1493-1541) erkannte die große Bedeutung der verabreichten Menge bei der Beurteilung der Wirkung einer Substanz. So kann die Aufnahme derselben Stoffe aus Pflanzen das eine Mal Siechtum und Tod, das andere Mal Heilung von Krankheiten bedeuten. Wie hoch die Dosis ist, die gerade nicht mehr heilsam, sondern schon giftig wirkt, ist von Pflanze zu Pflanze unterschiedlich.

Auch manche Stoffe, die als besonders gesund gelten (z. B. einige Vitamine), sind ab einer bestimmten Dosis Gifte. Anhand einiger bekannter Giftpflanzen, deren isolierte Inhaltsstoffe bei fachmännischem Gebrauch wirksame und manchmal lebensrettende Arzneimittel darstellen, soll die Frage „Gift oder Segen?” veranschaulicht werden.

Die Anwendung aus Pflanzen isolierter, chemisch definierter Substanzen kann streng genommen nicht als Pflanzenheilkunde (Phytotherapie) gelten, da kein Extrakt aus der Pflanze zur Anwendung kommt, in dem viele Inhaltsstoffe die Wirksamkeit beeinflussen. Die Therapie mit pflanzlichen Reinstoffen gleicht der mit chemisch-synthetisch hergestellten Arzneimitteln.

Die Alkaloide der hier vorgestellten Pflanzen (Hyoscyamin, das bei der Isolierung in das sog. Racemat Atropin übergeht sowie Scopolamin) verursachen in zu hoher Dosis zunächst eine Lähmung der Muskulatur von Magen und Darm, Herzrasen, Mundtrockenheit und Pupillenerweiterung, später Halluzinationen, Tobsuchtsanfälle und schließlich Tod durch Atemlähmung.

Aus Nachtschattengewächsen wie Tollkirsche, Stechapfel oder Bilsenkraut isoliertes Atropin blockiert Rezeptoren im parasympathischen Nervensystem, das u. a. für die Regulation der Verdauung, für die Aktivierung der Schweißdrüsen, für eine Bremsung der Herzfrequenz sowie für die Verengung der Pupillen verantwortlich zeichnet. In therapeutischer Dosierung werden die reinen Alkaloide gegen Krämpfe im Magen-Darmbereich und bei verlangsamtem Herzschlag (Bradykardie) eingesetzt. In der Klinik ist Atropin das Notfallmittel bei drohendem Herzstillstand durch Bradykardie. In der Augenmedizin wird der Stoff zum Weiten der Pupillen bei Untersuchungen der Netzhaut eingesetzt.

Um die erregenden Wirkungen auf das zentrale Nervensystem zu verhindern, die eine schwerwiegende Nebenwirkung der Atropinbehandlung darstellen, sind aus Atropin und dem verwandten Scopolamin Arzneistoffe entwickelt worden, die zwar entkrampfend wirken, den Herzschlag verlangsamen oder bei Asthma die Bronchien erweitern, nicht aber die sogenannte Blut-Hirn-Schranke überwinden können. Nebenwirkungen auf das Gehirn werden so verhindert. Verbreitet ist beispielsweise der Einsatz des Wirkstoffes N-Butyl-Scopolaminiumbromid bei krampfartigen Schmerzen in der „Regel”. Der Wirkstoff wird durch chemische Veränderung des Scopolamins hergestellt, das zuvor aus dem Stechapfel isoliert wurde.

Tollkirsche - Atropa bella-donna
Tollkirsche (Atropa bella-donna)

Die hier gezeigten Pflanzen enthalten sog. Herzglykoside. Bei Vergiftungen mit den Pflanzen oder daraus gewonnenen Arzneimitteln kommt es zu Übelkeit, Brechreiz, Seh- und Herzrhythmusstörungen; in schweren Fällen setzt der Herztakt ganz aus. Der Tod tritt durch einen Krampf der Herzmuskulatur (Kammerflimmern) ein. Ein Blatt des Roten Fingerhutes kann tödlich für den Menschen sein.

Herzglykoside schmecken extrem bitter. So treten Vergiftungen in weit über 90% der Fälle mit Arzneimitteln und nicht mit den Pflanzen auf. Herzglykoside werden auch heute noch aus Pflanzen gewonnen, da ihre chemisch-synthetische Herstellung extrem aufwendig und damit teuer ist. Vor allem die einjährigen Blätter des Wolligen Fingerhutes dienen der Isolierung dieser komplexen Stoffe. Therapeutisch werden Herzglykoside in sehr geringen Dosen (z. T. nur ein zehntel Milligramm pro Tablette) bei chronischer Herzschwäche (Herzinsuffizienz) eingesetzt. Der Herzmuskel zieht sich stärker zusammen, so dass pro Schlag eine größere Blutmenge in die Blutgefäße gepumpt wird. Die Muskeln werden wieder besser mit Energie und Sauerstoff versorgt, die Leistungsfähigkeit steigt. Wasseransammlungen in Beinen und in der Lunge gehen zurück, weil das venöse Blut rascher abfließt. Die Therapie mit Herzglykosiden hat Millionen von Menschen mit Herzschwäche ein großes Stück Lebensqualität zurück gegeben. Strophanthin, ein Herzglykosid aus den Samen einiger tropischer Lianen, ist das Notfallmittel bei drohendem Herzstillstand durch Herzinsuffizienz. Die Strophanthininjektion hat tausenden Menschen das Leben gerettet. Auch wenn heute bei der Herzinsuffizienz vermehrt Arzneistoffe zum Einsatz kommen, bei denen therapeutische Effekte und Giftwirkung nicht derart eng beieinander liegen: in vielen Fällen gibt es noch keine Alternative zu den Stoffen aus dem Fingerhut.

Roter Fingerhut - Digitalis purpurea
Roter Fingerhut (Digitalis purpurea)
Wolliger Fingerhut - Digitalis lanata
Wolliger Fingerhut (Digitalis lanata)
Eibe - Taxus baccata
Eibe (Taxus baccata)

In allen Teilen der Eibe – mit Ausnahme des roten Fruchtmantels der Beerenzapfen – kommt Taxin, ein Gemisch aus Pseudoalkaloiden vor. Vergiftungen damit lösen Schwindel, Pupillenverengung, oberflächliche Atmung und Verlangsamung des Herzschlages aus. Später kommt es zu Krämpfen und Bewusstlosigkeit. Der Tod tritt durch Atemlähmung ein.

Erst vor einigen Jahren wurde die zellteilungshemmende Wirkung des Stoffes Paclitaxel aus der Rinde der pazifischen Eibe (Taxus brevifolia) entdeckt. Paclitaxel ist dem Taxin der europäischen Eibe (Taxus baccata) strukturell nahe verwandt. Es kann das Wachstum bestimmter bösartiger Tumoren (Brust-, Gebärmutter- und Lungenkrebs), die anders nicht zu behandeln sind, zum Stillstand bringen. Für die Gewinnung von einem Kilogramm Paclitaxel müssen mehrere hundert Bäume gefällt werden. Die Ausrottung der pazifischen Eibe und damit das Versiegen der Quelle für den lebensrettenden Stoff war abzusehen. Paclitaxel wird neuerdings durch chemischen Umbau des Taxins aus den Nadeln der heimischen Eibe (Taxus baccata) gewonnen. Bei dieser Methode lassen sich, z. B. durch den regelmäßigen Schnitt von Eibenhecken, nachwachsende Ressourcen nutzen.

Vergiftungen mit Pflanzenteilen der Herbstzeitlosen oder Medikamenten, die das Alkaloid Colchicin, das aus den Samen der Pflanze gewonnen wird enthalten, rufen Koliken und wässrige Durchfälle hervor. Es folgen Brennen, Kratzen und Schwellungen im Rachenraum, die später auch zu Schluckbeschwerden und Atemnot führen. Schwere Vergiftungen können unbehandelt zum Tode führen.

Das isolierte Alkaloid Colchicin aus der Herbstzeitlosen wird als Mittel zur raschen Beendigung eines akuten Gichtanfalles eingesetzt. Gicht entsteht, wenn hohe Harnsäurespiegel im Kreislauf zum Ausfällen von Harnsäurekristallen führt. Bestimmte Zellen des Immunsystems (Fresszellen) versuchen diese Kristalle unschädlich zu machen. Dabei kommt es zu heftigen entzündlichen Reaktionen die mit starken Schmerzen einher gehen. Colchicin hemmt Vermehrung und Bewegungsfähigkeit der Fresszellen, der Gichtanfall wird abgebrochen. Die Behandlung geht häufig mit schweren Nebenwirkungen einher. Fast immer kommt es zu Übelkeit, Erbrechen und Durchfall.

Herbstzeitlose - Colchicum autumnale
Herbstzeitlose (Colchicum autumnale)