Die Verbindung von Recht und Code: Algorithmische Fairness durch optimalem Transport erreichen

 

Diskriminierung durch Algorithmen wird immer mehr als gesellschaftliches und rechtliches Problem wahrgenommen. Zwar sind diverse Fairnesskriterien für algorithmische Entscheidungsprozesse vorgeschlagen worden, aber diese widersprechen sich zum Teil philosophisch und/oder mathematisch. In einem vor kurzem veröffentlichten Fachartikel hat der Ulmer Mathematiker Emil Wiedemann gemeinsam mit seinen Koautoren Meike Zehlike (Informatik, MPI für Softwaresysteme Saarbrücken) und Philipp Hacker (Jura, Europa-Universität Frankfurt/O.) einen neuen Algorithmus entwickelt. Dieser ermöglicht eine stetige Interpolation zwischen zwei widerstrebenden Fairnesskriterien, nämlich individueller und gruppenbezogener Fairness. Dabei wird unter individueller Fairness üblicherweise das Prinzip verstanden, nach dem Individuen mit ähnlichen Merkmalen auch ähnlich behandelt werden sollen, wohingegen Gruppenfairness darauf anhebt, dass die Wahrscheinlichkeit einer positiven Entscheidung nicht von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten demographischen Gruppe abhängt.

Ein Beispiel: Bei der Entscheidung über die Vergabe eines Kredits wird die Kreditwürdigkeit eines Individuums anhand eines Scores beurteilt (z.B. SCHUFA). Dieser Score wird wiederum aufgrund von Merkmalen wie Einkommen, Kreditgeschichte, Familienstand etc. berechnet. Hier kann man leicht einsehen, wie die beiden genannten Fairnesskriterien einander widersprechen können: Individuelle Fairness verlangt, dass Menschen mit ähnlichen Merkmalen auch mit ähnlicher Wahrscheinlichkeit einen Kredit erhalten. Gruppenfairness dagegen verlangt, dass verschiedene demographische Gruppen die gleichen Chancen auf einen Kredit haben. Falls nun aber eine demographische Gruppe (z.B. Menschen mit Migrationshintergrund) in der Vergangenheit diskriminiert worden ist, wird diese Gruppe im Mittel voraussichtlich schlechtere Kreditscores erhalten als die privilegierte Mehrheit. Das Konzept der gruppenbezogenen Fairness erfordert dann eine wohlwollendere Beurteilung diskriminierter Individuen im Vergleich mit nicht-diskriminierten, was wiederum dem Prinzip der individuellen Fairness widerspricht. Umgekehrt kann das Prinzip der individuellen Fairness zur Stützung des Status quo führen, der durch vergangene und anhaltende Ungerechtigkeiten zustande gekommen sein mag.

Individuelle und gruppenbezogene Fairness sind aus zwei Gründen relevant: Erstens werden sie nicht nur ausführlich in der algorithmischen Fairnessforschung, sondern auch in juristischen Debatten diskutiert. Die Autoren haben dementsprechend einen Algorithmus vorgeschlagen, der Verfahren des maschinellen Lernens mit aktuellem Antidiskriminierungsrecht in Einklang bringt. Zweitens können die beiden Fairnesskriterien streng mathematisch formuliert werden, was eine stetige Interpolation zwischen individueller und gruppenbezogener Fairness ermöglicht. 

Diese Interpolationsmethode beruht auf der Theorie des optimalen Transports, die in der gegenwärtigen mathematischen Analysis eine wichtige Rolle spielt. Der Algorithmus ermöglicht es also dem Entscheidungsträger, weltanschauliche Haltungen zwischen den beiden Extrempositionen eines vollkommenen Egalitarismus einerseits und des Festhaltens am Status quo andererseits einzunehmen.

Die Autoren diskutieren drei Beispiele (Kreditvergabe; Studienzulassungen; Versicherungsverträge) und erläutern die rechtlichen und politischen Folgen. In Situationen, in denen Gruppenfairness stärker berücksichtigt werden sollte, kann der Entscheidungsträger die individuell fairen Scores in gruppenbezogen faire Scores transformieren, die statistisch gesehen eine Gleichbehandlung aller Gruppen nach sich ziehen. Dabei müssen allerdings rechtliche Vorgaben zur positiven Diskriminierung beachtet werden. Gibt es andererseits legitime Gründe, verschiedene Gruppen auch unterschiedlich zu behandeln, dann kann der Entscheidungsträger an individuell fairen Scores festhalten, auch wenn dadurch das Prinzip der Gruppenfairness verletzt wird. Diese Ungleichbehandlung muss dann ggf. aber auch gerichtsfest begründet werden. 

Der Artikel „Matching Code and Law: Achieving Algorithmic Fairness with Optimal Transport“ ist im Fachjournal Data Mining and Knowledge Discovery erschienen.

Kontakt

Prof. Dr. Emil Wiedemann

Institut für Angewandte Analysis

Helmholtzstraße 18, Raum E.10
89069 Ulm

Tel: +49  (0)731/50-23560
Email: Emil.wiedemann (at) uni-ulm.de

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