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Beim Blick tief ins Glas den Atomen beim `Tanzen´ zugeschaut
Physiker machen dynamische Prozesse in Siliziumdioxid auf atomarer Ebene sichtbar

Ulm University

Jeder hat es schon in der Hand gehabt und manch einer hat wohl mal ganz tief hineingeschaut: gemeint ist Glas. Aber so grundlegende Einsichten wie ein Physikerteam der Universitäten Cornell (NY) und Ulm in dieses besondere Material gewonnen haben, hat bisher noch niemand nehmen können.
Dem internationalen Forscherteam, das durch einen Zufallsfund die dünnste Glasschicht der Welt entdeckt und dafür vor Kurzem einen Eintrag ins Guinness-Book erhalten hat, ist es nun gelungen, Deformationsprozesse in solch einer Glasschicht elektronenmikroskopisch sichtbar zu machen. Diese Verformungen treten auf, wenn Glas beispielsweise gebogen wird oder schmilzt. Veröffentlicht wurden diese fundamentalen Entdeckungen heute in der aktuellen Ausgabe von Science, einem der renommiertesten Wissenschaftsjournale der Welt.

Dafür wurde die ultradünne Glasschicht – sie ist nur eine Moleküllage dick – mit Hilfe eines Elektronenstrahls erhitzt. „Dabei entstehen im Übergang zwischen fester und flüssiger Phase Deformationen in der atomaren Struktur, die man nur unter einem besonderen höchstauflösenden Elektronenmikroskop sichtbar machen kann“, erklärt Ute Kaiser. Die Professorin für Experimentelle Physik leitet die Materialwissenschaftliche Elektronenmikroskopie an der Universität Ulm. Gemeinsam mit dem Physik-Professor David Muller, Ko-Direktor des Kavli Institute for Nanoscale an der Cornell Universität (NY) und den Doktoranden Pinshane Huang (Cornell) und Simon Kurasch (Uni Ulm) konnten die Forscher erstmals atomare Transformationen sichtbar machen, die bei einer Verformung ablaufen bevor Glas zerbricht. Eingesetzt wurde dafür das bildfehlerkorrigierte Transmissionselektronenmikroskop (TEM) der Universität Ulm.

Die Forscher haben so nicht nur den empirischen Nachweis erbracht, dass die Silizium- und Sauerstoffatome, aus denen Glas besteht, recht unregelmäßig in verschiedenen Polygonen angeordnet sind. „Wir konnten sogar filmen, wie sich im Schmelzvorgang Felder aus Fünf- und Siebenecken zu Sechsecken reorganisieren“, sagt Simon Kurasch, der als Wissenschaftlicher Mitarbeiter die Abbildungen in Ulm gemacht hat. „Man kann sozusagen den Atomen beim `Tanzen´ zusehen, und deren veränderte Atompositionen durch unsere speziell dafür entwickelte Auswertetechnik verfolgen“, erläutert Pinshane Huang, Doktorandin aus Mullers Team an der Cornell University. Die US-amerikanischen Physiker haben die elektronenmikroskopischen Aufnahmen aus Ulm aufbereitet und weiter ausgewertet. Dabei konnte auch die Verschiebung der Rotationswinkel in den Übergangsbereichen sichtbar gemacht und die Fluktuation zwischen festen zu flüssigen Bereichen quantifiziert werden.

Die Einblicke des Forscherteams in das dynamische Verhalten von Glas auf atomarer Ebene schließen eine große Forschungslücke. Bisher war es nur möglich, Annahmen zur atomaren Grundstruktur und ihren dynamischen Eigenschaften am Computermodell oder mit Hilfe verwandter Kolloidaler Strukturen zu überprüfen. „Nun haben wir zum ersten Mal überhaupt tatsächlich zeigen können, wie sich Silizium- und Sauerstoff-Atome wirklich verhalten, wenn Glas verbogen oder geschmolzen wird“, freut sich Ute Kaiser.

Verantwortlich: Andrea Weber-Tuckermann

 

 

Abb. 1: Elektronenmikroskopische Aufnahme der Deformationen in Glas (Siliziumdioxid) (A) Modell einer Silikat-Grundstruktur, wie sie in der zweidimensionalen Glasschicht vorkommt. (B-E) Die TEM Aufnahme zeigt, wie sich die Ringstrukturen aus Silizium- und Sauerstoffatomen reorganisieren. Aus dem rot-grün markierten Feld aus Fünf- und Siebenecken wird eine Fläche aus Sechsecken (blau). (G) Größerer Ausschnitt aus der Aufnahme. (H) In der Region, in der sich die atomaren Bindungen reorganisieren, zeigen sich starke lokale Rotationen. Die ringförmigen Strukturen wirken verschoben.

 

Abb. 2: (A-D) Bildserie der Restrukturierung an Grenzflächen im Glas. Die feste Phase ist gelb gefärbt, wobei die roten Bereiche die Regionen darstellen, bei denen sich die Atome relativ am weitesten verschoben haben. Die flüssigkeitsähnliche Phase ist blau eingefärbt.

 

Kurzvideo: Zum ersten Mal ist es Wissenschaftlern gelungen, mit einem hochauflösenden Transmissionselektronenmikroskop (TEM) die dynamischen Prozesse bei der Deformation von Glas sichtbar zu machen. Die ringförmig-vernetzen Polygone lösen sich auf und organisieren sich neu. So können einzelne Siliziumatome dabei beobachtet werden, wie sie neue Konfigurationen eingehen. Die nachträglich eingefärbten Zonen zeigen die Übergangsbereichen zwischen festen und flüssigen Bereichen, wo die Deformationen und Rearrangements besonders stark sind.