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Guinness-Rekord für einen Zufallsfund:
Forscher entdecken dünnstes Glas

Universität Ulm

Sie ist nur eine Doppelmoleküllage dick, und könnte dünner nicht sein: die Glasschicht, die Wissenschaftler der Universität Ulm und der Cornell University zufällig entdeckt haben. Mit einem Eintrag ins Guinness Book 2014 wird diese Entdeckung nun als Weltrekord gewürdigt.

"Obwohl Glas ja eigentlich transparent ist, kann man unter dem Elektronenmikroskop die einzelnen Silizium- und Sauerstoff-Atome sichtbar machen", erklärt Ute Kaiser. Die Professorin für Experimentelle Physik leitet die Materialwissenschaftliche Elektronenmikroskopie an der Universität Ulm. Sie ist noch immer fasziniert von dieser ganz besonderen, mehr als einjährigen Entdeckungsreise: "Schritt für Schritt haben wir durch unsere Experimente und Überlegungen der Schichtnatur ihr Geheimnis abgerungen, das war unglaublich spannend. Ein richtiger Wissenschafts-Krimi."

Simon Kurasch, damals noch Doktorand bei Ute Kaiser an der Universität Ulm, untersuchte gerade am höchstauflösenden Transmissionselektronenmikroskop die Atomstruktur einer Graphen-Probe. Das ist eine einlagige Schicht nur aus Kohlenstoffatomen, dessen sechseckige Atomstruktur an eine Bienenwabe erinnert und für dessen Entdeckung 2010 der Nobelpreis vergeben wurde. Eigentlich war dies für den Physiker eine Routineuntersuchung. Doch bei genauerem Hinsehen entdeckt der Nachwuchsforscher eine bisher nie gesehene und völlig unerwartete Struktur: "Sie ist teilweise wunderbar geordnet, andererseits völlig chaotisch", beschreibt Kurasch diesen Zufallsfund. Auf dem Graphen hatte sich eine äußerst dünne Schicht aus einem unbekannten Stoff gebildet. Rückfragen beim Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart, die das Graphen auf Kupferfolie in einem mit Quarzglas ausgekleideten Schmelzofen nach einem Standardverfahren hergestellt hatten, wecken ungläubiges Staunen. Das dortige Forscherteam um den Festkörper-Nanophysiker Dr. Jurgen Smet kann sich zunächst keinen Reim auf diesen Fund machen.

Die Ergebnisse deuten auf eine Silizium-Oxid-Verbindung hin

Die Ulmer Physikerin wendet sich an ihren langjährigen Wissenschaftsfreund und Physik-Professor David Muller, Leiter des Kavli Institute for Nanoscale an der Cornell Universität (NY). Möglicherweise könnten die Kollegen aus dem Staat New York höchstauflösende abbildende und spektroskopische Daten beisteuern und damit Licht in die chemische Beschaffenheit bringen. Muller willigt ein. Ein vierköpfiges deutsch-amerikanisches Forscherteam wurde eingerichtet, bestehend aus den beiden Ulmer Wissenschaftlern sowie Muller und seiner Doktorandin Pinshane Huang, das nun einige Zeit gemeinsam an der Cornell University forschte. Bald schon deutete Muller die Ergebnisse als Silizium-Sauerstoff-Verbindung. Mit Hochdruck suchte man nach weiteren Indizien zur Klärung der genauen chemischen Zusammensetzung des mysteriösen Materials. Es zeigte sich: die ultradünne Schicht bestand aus Siliziumdioxid, also Glas. Dieses amorphe Material gibt mit seiner besonderen atomaren Struktur der Wissenschaft noch immer große Rätsel auf. So galt es für die internationale Physiker-Gruppe zu klären, in welcher molekülübergreifenden Konfiguration die Glasschicht vorlag.

Ute Kaiser suchte daher den Rat ihrer finnischen Fachkollegen. Dr. Arkady Krasheninnikov von der Alto Universität Helsinki, ein ausgewiesener Experte für die Berechnung der Stabilität von Atombindungen, konnte mit seinen Kollegen schließlich zeigen, dass das Siliziumdioxid in zwei Schichten, also einer so genannten Doppellage, die stabilst-mögliche Konfiguration eingeht. "So stellte sich aus der Gesamtheit der analytischen und theoretischen Daten, dass wir die denkbar dünnste Glasschicht gefunden hatten, die damit faktisch zweidimensional war", so das Team. Zum ersten Mal konnten Wissenschaftler somit genaue Einblicke in die atomare Struktur dieses besonderen Materials gewinnen.

Glas hat in seiner Atomstruktur auch Eigenschaften von Flüssigkeiten

Glas ist ein so genanntes amorphes Material, das zwar die physikalischen Eigenschaften eines Feststoffs hat, in seiner Atomstruktur aber sowohl Eigenschaften von Flüssigkeiten als auch von Feststoffen aufweist. "Betrachtet man die elektronenmikroskopischen Aufnahmen, sieht man eine Lage unregelmäßiger und unterschiedlicher Polygone. Das sieht aus, wie ein Flickenteppich meist aus Fünf-, Sechs-, Sieben- und Achtecken", erläutert die Ulmer Elektronenmikroskopie-Expertin Ute Kaiser. "Mit unseren Ergebnissen konnten wir erstaunlicherweise eine Theorie bestätigen, die bereits 1932 vom W.H. Zachariasen formuliert wurde". Mit der so genannten Netzwerkhypothese des norwegisch-amerikanischen Physikers zur atomaren Struktur des Glases wurde - grob formuliert - die Annahme aufgestellt, dass Glas in seiner atomaren Grundstruktur - bestehend aus SiO4-Tetraedern - kristallähnlich ist, nur dass diese Tetraeder sehr viel zufälliger miteinander verbunden sind als beim sehr regelmäßig organisierten Kristall, sodass die Anordnung sehr viel unregelmäßiger erscheint.

Für das internationale Forscherteam hatte dieser wissenschaftliche "Kriminalfall", dessen Ergebnisse bereits 2012 inOpens external link in new window Nanoletters veröffentlicht wurden, gleich ein doppeltes Happy-End. So gelang es nicht nur, das denkbar dünnste Glas zu identifizieren, sondern auch ein bisher ungelöstes materialwissenschaftliches Rätsel zu lösen. Schließlich gehört die Frage nach der Atomstruktur des Glases nicht nur zu den großen Fragen der anorganischen Chemie sondern auch zu den größten analytischen Problemen der Physik. Mit dem Eintrag ins Guinness-Buch erfährt diese Entdeckung nun eine besondere Würdigung.

P. Y. Huang, S. Kurasch, A. Srivastava, V. Skakalova, J. Kotakoski, A. V. Krasheninnikov, R. Hovden, Q. Mao, J. C. Meyer, J. Smet, D. A. Muller, and U. Kaiser: Direct Imaging of a Two-Dimensional Silica Glass on Graphene Nano Lett. 12(2), 1081-1086 (2012); doi: 10.1021/nl204423x

Verantwortlich: Andrea Weber-Tuckermann

Opens external link in new windowBeitrag in der Sendung Impuls, SWR2

Die Ulmer Physiker Prof. Dr. Ute Kaiser und Simon Kurasch am höchst-auflösenden Elektronenmikroskop.
Die Abbildung zeigt die von W.H. Zachariasen 1932 postulierte Atomstruktur von Siliziumdioxid im Modell sowie im Hintergrund die Elektronenmikroskopisc
Die Ulmer Physiker Prof. Dr. Ute Kaiser und Simon Kurasch am höchst-auflösenden Elektronenmikroskop.
Die Abbildung zeigt die von W.H. Zachariasen 1932 postulierte Atomstruktur von Siliziumdioxid im Modell sowie im Hintergrund die Elektronenmikroskopisc